Erste Hilfe für die Seele: ein Kurs gegen das Wegsehen
21.03.2025 GstaadKörperliche Erste Hilfe ist selbstverständlich – doch wie hilft man bei psychischen Krisen? Ein spezieller Kurs vermittelt, wie man seelische Not erkennt und richtig reagiert. Mit Empathie, praxisnahen Übungen und einem klaren Leitfaden lernen die Teilnehmenden, dort ...
Körperliche Erste Hilfe ist selbstverständlich – doch wie hilft man bei psychischen Krisen? Ein spezieller Kurs vermittelt, wie man seelische Not erkennt und richtig reagiert. Mit Empathie, praxisnahen Übungen und einem klaren Leitfaden lernen die Teilnehmenden, dort hinzusehen, wo sonst oft weggeschaut wird. Der Kurs war eine Premiere im Saanenland und kam bei den Teilnehmenden gut an.
SONJA WOLF
Ernste Diskussionen, aber auch vereinzeltes Lachen erfüllen den Kursraum. «Das Thema ist nicht gerade einfach...», sagt eine Teilnehmende in der Pause ein wenig nachdenklich. Und sie meint nicht das Verständnis des Unterrichtsstoffs.
Es geht um Erste Hilfe für psychische Gesundheit – ein Thema, das in der Vergangenheit häufig ausgeblendet wurde. Erste Hilfe-Kurse für Verletzungen am Körper sind dagegen gang und gäbe: «Den Nothelferkurs macht ja jeder obligatorisch für den Führerschein», sagt auch Pfarrerin Marianne Kellenberger, die den Kurs vor Ort organisiert hat. «Aber wer weiss schon genau, wie man reagieren oder handeln soll, wenn bei einem Mitmenschen die Psyche leidet?»
«Wir wissen zu wenig darüber!»
Das finden auch die Teilnehmenden: «Ich bin mir bewusst, dass ich sehr wenig über das Thema weiss und dass sich die Fälle häufen. Ich hatte schon Gespräche mit Angehörigen von psychisch Kranken, und da sage ich vielleicht etwas ganz Falsches!» Auch eine andere Teilnehmende bestärkt: «Ich bin hier, weil ich zu wenig weiss über das Thema und auch Fälle in meinem privaten Umfeld habe. Und ich frage mich: Wie kann ich helfen? Sicher kann man helfen und man sollte eben auch!»
ROGER, ich habe verstanden!
Die gewünschte Hilfe bekamen die Teilnehmenden von den Instruktorinnen mit viel Empathie und nachvollziehbaren Beispielen. Der Vormittag des vergangenen Samstags diente der Vermittlung der Grundlagen: Es ging um ROGER (aus dem Funkspruch «Ich habe verstanden»), einem praktischen Leitfaden. Dabei steht jeder Buchstabe für einen Schritt, wie der Laie vorgehen kann, wenn er bei nahestehenden Personen psychische Schwierigkeiten erkennt (siehe Kasten ROGER).
Rollenspiele mit Sicherheitsmechanismen
Am Nachmittag folgten praktische Fallbeispiele, bei denen die Teilnehmenden in kleinen Gruppen in Rollenspielen das Gelernte anwenden konnten. Sie übten, wie man eine Person mit einem bestimmten psychischen Problem anspricht und mit ihr umgeht. Dabei ging es am ersten Samstag um die Themen Depression, Suizidalität und Angststörung. Im zweiten Teil des Kurses Ende März werden sie erfahren, wie sie ihren fünfteiligen ROGER-Leitfaden bei Personen mit Panikattacken, Suchterkrankungen oder Psychosen behutsam anwenden.
«Gehts dir gut?» Die Kursteilnehmenden sollten nicht vergessen, den Kursleiterinnen vor dem Hinausgehen ihre Befindlichkeit anzuzeigen. Denn die Thematik Suizidalität geht manchmal sehr nahe.
Da die Themen psychische Belastung und Suizidalität emotional sein können, boten die Rollenspiele eine Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen mit den möglichen eigenen Reaktionen oder den Reaktionen anderer auseinanderzusetzen. Es gibt dabei generell auch Mechanismen, um Unterstützung zu erhalten, falls zu starke Emotionen ausgelöst werden. Gisella Bächli, eine der Instruktorinnen, erklärt im anschliessenden Interview: «Die Person, die im Rollenspiel die suizidale Person spielt, darf niemand sein, der selbst suizidal ist oder war. Ausserdem muss die Person gerade einen guten Tag mit stabiler Stimmung haben. Aber auch wenn alle Voraussetzungen gegeben sind, kann sie im Verlauf des Rollenspiels jederzeit Stopp sagen und aufhören.»
Daumen hoch?
Ist es schon einmal vorgekommen, dass jemand während des Kurses einen Zusammenbruch hatte, weil vielleicht Erinnerungen an eigene schlechte Phasen hochgekommen sind? Helena Durtschi, Instruktorin und Fachmitarbeiterin Bildung bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn meint, das sei natürlich schon vorgekommen. Daher hängen an der Kurssaaltür auch die beiden Plakate mit dem Daumen nach oben und nach unten. «Denn manchmal geht eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer auch während der Unterrichtszeit kurz hinaus wegen eines Anrufs oder auf die Toilette. Dann sollen die Plakate die Person daran erinnern, kurz mit dem Daumen anzuzeigen, ob es ihr gut geht.» Denn bei «Daumen runter» würde eine der Instruktorinnen mit hinausgehen und fragen, ob die Person reden, ein wenig draussen laufen will oder Ähnliches.
Daumen hoch!
Die Rollenspiele im Saanenland liefen jedenfalls ohne Zwischenfälle. Marianne Kellenberger dazu: «Die Übungen am Nachmittag waren zwar emotional sehr intensiv – ich selbst war am Abend fix und fertig –, die Atmosphäre in der Gruppe war aber immer äusserst vertrauensvoll und wertschätzend. Die Instruktorinnen sind sehr positive Menschen und haben es geschafft, uns immer wieder zum Schmunzeln oder sogar zum Lachen zu bringen – trotz des schweren Themas.»
Besonders schätzte die Organisatorin, dass sich die Gruppe aus allen Altersklassen zusammensetzte und dass auch ein Mann unter den 15 Teilnehmenden war. «So konnten wir bei all den Kommunikationssituationen auch die männliche Sicht abfragen. Die ist ja manchmal ein wenig anders als die weibliche», erklärte Kellenberger.
Fortsetzung folgt
Das Bewusstsein für die Thematik ist im Saanenland also da, dies bewiesen die vielen Anmeldungen. «So ein Nothelferkurs für die Seele ist enorm wichtig. Wir müssen lernen, besser hinzuschauen», resümiert Marianne Kellenberger. Sie selbst nimmt an beiden Samstagen teil, um die Themen, welche die Instruktorinnen vermitteln, aus erster Hand zu erleben. So kann sie künftige Interessierte besser ansprechen oder beraten. Denn weitere Kurse sollen folgen.
Marianne Kellenberger führt eine Interessensliste für allfällige kommende Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit. Interessierte können sich ab sofort bei ihr melden.
Weitere Informationen zu den Kursen erteilt Helena Durtschi: helena.durtschi@refbejuso.ch
WOHER KOMMT DIE IDEE?
Der Erste-Hilfe-Kurs wurde 2000/ 2001 in Australien entwickelt, um Laien besser helfen zu können, wenn bei nahestehenden Personen psychische Schwierigkeiten auftreten. Inzwischen haben zahlreiche andere Lizenznehmende in anderen Ländern die Struktur und den Inhalt übernommen, passen die Kursunterlagen – ein Kurs- und ein Übungsbuch – aber an die landeseigene Kultur und Sprache an. Lizenzgeberin ist die australische Mental Health First Aid International. Lizenznehmerin in der Schweiz ist die Stiftung Pro Mente Sana. Sie bietet das Programm unter dem Namen «ensa» an. Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn haben mit Pro Mente Sana vertraglich vereinbart, dass sie in ihrem Kirchengebiet ensa-Kurse eigenständig durchführen können.
Das Programm ensa will der Stigmatisierung entgegentreten, der Tabuisierung Worte verleihen («Mir rede drüber») und Hoffnung auf Genesung vermitteln («Je früher, desto einfacher ist es, Hilfe zu leisten»). Die psychische Gesundheit lässt sich nicht nur durch die Abwesenheit oder Anwesenheit einer psychischen Erkrankung definieren. Durch die Stärkung der persönlichen Ressourcen und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) kann man auch mit einer psychischen Erkrankung ein gutes und sinnerfülltes Leben führen oder zur vollständigen Wiederherstellung gelangen.
SWO
ROGER
«Roger» steht für einen strukturierten Ansatz der Ersten Hilfe für psychische Gesundheit in fünf Schritten. Er dient als praktischer Leitfaden, um in Situationen, in denen jemand psychische Unterstützung benötigt, angemessen zu reagieren.
R – Reagiere: ansprechen, einschätzen, beistehen
O – Offen und unvoreingenommen zuhören und kommunizieren
G – Gib Unterstützung und Information
E – Ermutige zu professioneller Hilfe
R – Reaktiviere Ressourcen
AUS: ENSA-HANDBUCH ERSTE HILFE FÜR PSYCHISCHE GESUNDHEIT