Patagonien – «Dr. Gelbgesicht auf Feuerland»
11.11.2025 GesellschaftVor genau 50 Jahren – ich war gerade etwas mehr als 13 Jahre alt – schrieb ich, nachdem ich mich zuvor schon an längeren Aufsätzen versucht hatte, meine erste umfangreichere Erzählung, einen kleinen Roman mit dem Titel «Dr. Gelbgesicht». Die Geschichte war ...
Vor genau 50 Jahren – ich war gerade etwas mehr als 13 Jahre alt – schrieb ich, nachdem ich mich zuvor schon an längeren Aufsätzen versucht hatte, meine erste umfangreichere Erzählung, einen kleinen Roman mit dem Titel «Dr. Gelbgesicht». Die Geschichte war meinem Alter entsprechend etwas verworren, aber ich will versuchen, sie dennoch kurz zu beschreiben: Ein Mädchen namens Beatrice wird vor den Augen ihres besten Freundes Bastian entführt. Mit der Figur Bastian beschrieb ich mich selbst, meinen Zwillingsbruder Martin mit eingeschlossen. Beatrice gab es ebenfalls im wirklichen Leben, denn sie war meine beste Freundin.
«Versprich mir, dass du mich suchst! Befreie mich, Bästu!», schrie sie, als sie von zwei mit schwarzen Anzügen gekleideten Männern mit Sonnenbrillen in eine schwarze Limousine gezerrt wurde, und Bastian schrie zurück: «Bis ans Ende der Welt, Trixi, bis ans Ende der Welt!»
Wie nicht anders zu erwarten, gab es im Dorf einen grossen Aufruhr, denn Derartiges hatte sich noch nie ereignet und die Polizei tappte im Dunkeln. Eines Tages erhielt Bastian jedoch einen Brief mit folgendem Inhalt: «Deine Freundin wurde von Dr. Gelbgesicht, einem ehemaligen KZ-Arzt, entführt, weil sie mit einem Zwilling befreundet ist. Der Ort, wo sie und andere Mädchen festgehalten werden, heisst Feuerland und befindet sich in der Nähe des Kap Hoorn.»
Nachdem Bastian den Spielfilm «Der Arzt von Stalingrad» gesehen hatte, begann er sich für die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu interessieren. Aus einem Geschichtsbuch hatte er ausserdem von einem anderen Arzt, einem gewissen Dr. Mengele, erfahren, der im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau Experimente an Häftlingen durchführte, unter anderem auch an Zwillingen. Bastian wurde sofort klar, dass dieser geheimnisvolle Arzt und Dr. Gelbgesicht identisch sein mussten und er seine Versuche keinesfalls aufgegeben hatte. Ich denke, der Leser sollte auch wissen, dass mich Kap Hoorn schon immer fasziniert hat, seit ich als Kind begonnen hatte, Abenteuerromane zu lesen. Überdies war allgemein bekannt, dass sich viele Nazikriegsverbrecher in Patagonien, im Süden von Argentinien, wozu auch Feuerland zählt, versteckt hielten.
Jedenfalls riss meine Romanfigur Bastian kurzerhand von zu Hause aus, fuhr als schwarzer Passagier auf einem Frachter über den Atlantik, um auf Feuerland an Land zu gehen. Mit Hilfe von einigen ihm wohlgesonnenen Wichtelmännchen, die dort den einheimischen Legenden nach existieren sollten, befreite er Beatrice und mit ihr viele weitere Mädchen aus den Fängen dieses Ungeheuers, die aus demselben Grund entführt worden waren. Es stellte sich heraus, dass der Arzt an einer schweren Gelbsucht gelitten hatte, wodurch seine Gesichtshaut für immer von einem gelben Farbton gekennzeichnet sein sollte, eben Dr. Gelbgesicht – was allerdings eine Erfindung von mir war. Schlussendlich wurde er im berühmt-berüchtigten Gefängnis von Ushuaia, das einen ähnlichen Ruf wie die legendäre Gefängnisinsel Alcatraz in der Bucht von San Francisco genoss, eingesperrt.
Beatrice umarmte ihren Freund, drückte ihm einen Kuss auf die Backe und flüsterte ihm ins Ohr: «Ich habe gewusst, dass du mich befreien wirst, Bästu!»
«Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich bis ans Ende der Welt suchen werde», erwiderte er bescheiden, aber tief in seinem Innersten stolz auf seine Leistung, denn Ushuaia wird tatsächlich auch die «Stadt am Ende der Welt» genannt, weil sie nicht nur die südlichste Stadt Südamerikas ist, sondern der Welt überhaupt.
Der Name Feuerland ist übrigens auf den portugiesischen Seefahrer Magellan zurückzuführen. Als er im Jahr 1520 die Meerenge, die heute seinen Namen trägt, durchfuhr, sah er entlang der Inselküste etliche grosse Feuer lodern, die von der einheimischen Bevölkerung entfacht wurden, um der nächtlichen Kälte zu entgehen.
Zwar war mir dieser Umstand damals durchaus bekannt, jedoch beging ich in meiner Erzählung einen ziemlich groben Fehler: Ich glaubte, dass es auf Feuerland Sandstrände mit Palmen gäbe und so beschrieb ich die Landschaft denn auch. Nachdem mir klar wurde, welch gravierenden Fehler ich begangen hatte, beschloss ich, nie wieder über einen Ort zu schreiben, den ich nicht persönlich aufgesucht habe, selbst wenn die Recherchen heutzutage durch das Internet wesentlich vereinfacht worden sind.
Doch zurück zu den «Sandstränden» auf Feuerland. Heute weiss ich es besser. Die Landschaft ist geprägt von einer kargen und wilden Schönheit. Riesige Lenga-Bäume oder auch Südbuchen genannt, die auf Feuerland zu Hause sind, kriechen entweder vom Wind gebeutelt über den Boden oder ragen bis zu 30 Metern Höhe in den Himmel, umringt von bizarr geformten, schneebedeckten Bergen. Zudem ist es dort vielfach so stürmisch, wie ich nun aus eigenem Erleben bezeugen kann, dass, bevor der Panamakanal gebaut wurde, an den der Insel vorgelagerten Felsen im Verlauf der Jahrhunderte Dutzende, nein, Hunderte von Schiffen zerschellt sind. Über 10’000 Seeleute sollen dort ihr nasses Grab gefunden haben.
Übrigens habe ich drei Versuche gemacht, Feuerland wenigstens nachträglich zu besuchen:
– Den ersten Versuch im Jahr 1985, als ich mit meinem Zwillingsbruder Martin Südamerika bereiste, uns aber das Geld ausging, bevor wir Feuerland überhaupt erreichten.
– Den zweiten Versuch, als ich Ende 1988 mein Freiwilligenjahr in Bolivien abschloss, mich jedoch andere Ereignisse, von denen ich in unzähligen Bolivienspalten berichtet habe, daran hinderten.
– Den dritten Versuch im Oktober dieses Jahres, also genau 50 Jahre nachdem ich die Geschichte über Dr. Gelbgesicht geschrieben und genau 40 Jahre, nachdem ich mich zu meiner ersten Südamerikareise aufgemacht hatte, dieser war jetzt endlich erfolgreich – und zwar wieder in Begleitung meines Bruders Martin.
Als mich eine Schriftstellerkollegin fragte, was denn der Zweck dieser meiner geplanten Reise sei, konnte ich nicht zugeben, dass es ein reiner Selbstverwirklichungstrip ist und antwortete: «Es ist eine Recherchereise ‹im Nachhinein› für eine Geschichte, die ich vor langer Zeit geschrieben habe...» und ich erzählte ihr von Dr. Gelbgesicht auf Feuerland.
In Wirklichkeit ist diese Reise zu den Naturwundern Patagoniens jedoch viel mehr als eine verspätete Recherche oder ein Selbstverwirklichungstrip, nämlich eine Reise zu den Wurzeln meines Schriftstellertums selbst.
Hinzuzufügen wäre noch, dass ich schon in jenen ersten Jahren meines Schriftstellerlebens oft von Fernweh geplagt wurde und so auch eine Geschichte über Neukaledonien schrieb. Diese ferne Inselgruppe im Pazifik zu besuchen, habe ich allerdings bis heute nicht geschafft.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4.. www.tres-soles.de




