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31.03.2023 KolumneInfante Dom Henrique o Navegador
KEREM S. MAURER
Zugegeben, das ist ein aussergewöhnlicher Name für eine Mauereidechse – aber es ist einer.
Es war an einem warmen Sommertag vor einigen Jahren. Ich entspannte zu Hause auf der Terrasse in der ...
Infante Dom Henrique o Navegador
KEREM S. MAURER
Zugegeben, das ist ein aussergewöhnlicher Name für eine Mauereidechse – aber es ist einer.
Es war an einem warmen Sommertag vor einigen Jahren. Ich entspannte zu Hause auf der Terrasse in der Nachmittagssonne, als er langsam auf mich zu kroch. Er war ein stattliches Mauereidechsenmännchen, welches aufgrund einer Verletzung den hinteren rechten Fuss nachzog. Ich beugte mich von meinem Liegestuhl hinunter und beobachtete, wie sich die Echse für ihresgleichen eigentlich viel zu nahe zu mir hinbewegte, sich umdrehte und mir ihren lädierten Fuss zeigte. «Oh, du arme chline Kerli!»
Tags darauf, ich kehrte gerade vom Spaziergang mit Hund Bahdro zurück, sonnte sich eine Eidechse auf dem Weg vor unserer Haustür. Ich erspähte das ramponierte Hinterbein und freute mich, weil ich die Eidechse wiedererkannte. Schnell brachte ich den Hund ins Haus, setzte mich zum Reptil und sagte freundlich: «Hoi.»
Er schaute mich züngelnd an. In den folgenden Tagen begegnete ich dem handicapierten Kriechtier, das in seinen Bewegungen in keiner Weise eingeschränkt schien, täglich. Entweder im nach Süden gerichteten Garten, vor der Haustür im Westen oder nachmittags auf der ostseitigen Terrasse. Nach zwei bis drei Wochen kannte ich seine Lieblingsplätze.
«Wollen wir mal Fotos machen?», fragte ich die Echse eines Tages im unverfänglichen Plauderton, als wir zusammen in der Sonne lagen und versprach ihr, sofort wieder damit aufzuhören, sollte sie sich dabei unwohl fühlen.
Ich erfuhr aus einem Tierlexikon, dass Mauereidechsen normalerweise ein Revier von etwa 25 Quadratmetern für sich beanspruchten. Die hinkende Eidechse beherrschte jedoch mit Weg, Garten und Terrasse ein wesentlich umfangreicheres und sehr weitläufiges Territorium. Und weil das Echsenmännchen immer da war, sich abends sogar zutraulich (oder mutig?) neben unserem Terrassentisch auf dem Fenstersims zum Schlafen zusammenkringelte, bekam er von uns einen Namen, der seinem Wesen entsprach: Infante Dom Henrique o Navegador, also Heinrich, der Seefahrer. Rufname: Infante.
Infante wurde immer zutraulicher und liess mich oft mit der Kamera an seinem Leben teilhaben. Einmal speisten wir sogar zusammen. Er eine fette, grüne Raupe, ich ein Rüebli. Ein anderes Mal stellte er mir seine «Garten-Freundin» vor. Später auch die «Weg-Freundin» und die «Terrassen-Freundin». Das Schuppenkriechtier zeigte mir sogar eines Tages, wie es mit seiner Weg-Freundin kleine Echsen machte. Danach posierte er stolz wie Bolle mit rot geschwellter Brust.
Es war ein ereignisreicher, unvergesslicher Sommer, in dem ungewöhnliche Fotos von einer furchtlosen und zutraulichen Mauereidechse entstanden. Leider weiss ich nicht mehr genau, wann ich Infante das letzte Mal gesehen habe. Es wurde Winter, nach dem Frühling kam der Sommer, doch Infante Dom Henrique trat nicht mehr auf. Viele Male habe ich seine Lieblingsplätze noch aufgesucht in der Hoffnung, den liebenswerten Kerl wieder zu treffen. Doch er blieb weg. Nichts währt ewig.
Zum Glück bevölkern Infantes Nachfahren bis heute sämtliche Bereiche, die ihr glorreicher Stammvater mit dem lädierten Fuss einst beherrscht hatte. Einen wie ihn hat es bis heute nicht mehr gegeben. Doch etwas haben ihm seine Nachkommen zu verdanken: Mauereidechsen geniessen seit jenem Sommer bei uns einen besonderen Status und den grösstmöglichen Schutz. kerem.maurer@anzeigervonsaanen.ch