Rudolf Wehren liebte das Saanenland und dessen Menschen
26.10.2023 GstaadZwei Mal pro Woche erscheint der «Anzeiger von Saanen» mit Neuigkeiten aus der Region, dies seit 143 Jahren. Den Grundstein dafür legte Rudolf Andreas Wehren-von Siebenthal. In diesem Monat jährte sich sein Tod – 100 Jahre ist es her. Wer war der Mann, der diese ...
Zwei Mal pro Woche erscheint der «Anzeiger von Saanen» mit Neuigkeiten aus der Region, dies seit 143 Jahren. Den Grundstein dafür legte Rudolf Andreas Wehren-von Siebenthal. In diesem Monat jährte sich sein Tod – 100 Jahre ist es her. Wer war der Mann, der diese Zeitung einst aufbaute? Ein Blick in die Lebensgeschichte eines Menschen, der früh harte Schicksalsschläge erleiden musste, sich aber davon nicht beirren liess und sich für vieles einsetzte, besonders für die Region.
Am 7. April 1846 erblickte das neunte und jüngste Kind von Christian Wehren und Barbara Beyeler in Kienholz bei Brienz das Licht der Welt: Rudolf Andreas Wehren. Später werden sie ihn Ruedi nennen. Der Vater – ein Amtsnotar – war der Sohn des Landesseckelmeisters Christian Wehren und der Maria Haldi, die im Kastlan-Haldi-Haus aus dem Jahre 1742 auf dem Unterbort bei Saanen wohnten. Vater Christian Wehren verliess als junger Mann das Saanenland, um das Notariatspatent zu erwerben. Er arbeitete unter anderem als Amts- und Schlossschreiber, Sekretär des bernischen Departements des Innern und Regierungsstatthalter von Laupen. Der aufblühende Tourismus im Thuner- und Brienzerseegebiet bewog Christian Wehren, aus dem schlecht bezahlten Staatsdienst auszutreten und 1845 das Hotel Bellevue in Kienholz zu erwerben. Doch weder er noch seine Frau hatten die nötige Erfahrung und Eignung zum Hotelier respektive zur Hotelierin.
Mit neun Jahren Vollwaise
Rudolf Wehren widerfuhren schon früh schwere Schicksalsschläge: Am 2. Februar 1854 verlor er seinen seit Jahren an Tuberkulose leidenden Vater, nachdem schon vorher zwei seiner Geschwister dieser Krankheit zum Opfer gefallen waren, und nicht einmal ein Jahr später – am 14. Januar 1855 – starb auch die Mutter. Der noch nicht Neunjährige wurde zum Vollwaisen. Nun löste sich die Familie auf und Rudolf kam in die Obhut seiner Tante Liseli, der Schwester seines verstorbenen Vaters, die 1856 Grossrat Fritz Reichenbach am Gstaad heiratete.
Sein Wunsch und seine Leidenschaft: Das Lehramt
Rudolf Wehren hegte den Wunsch, einst Lehrer zu werden. Er besuchte deshalb von 1862 bis 1863 die Sekundarschule in Zweisimmen, weil die Sekundarschule Saanen-Gstaad erst 1867 eröffnete. An der Schule lernte er den Sekundarlehrer, Volksdichter und Heimatforscher David Gempeler kennen, der ihm zeitlebens zum Vorbild werden sollte. In seinen Abschiedsworten bei seiner Pensionierungsfeier 1909 sagte Wehren über Gempeler: «Der ganz vorzügliche Sekundarlehrer Herr Gempeler in Zweisimmen entwickelte mein Wissen, Erkennen, Denken, Können…»
Rudolf Wehren bildete sich bis 1866 im Seminar Münchenbuchsee weiter und wuchs zu einem begeisterten Lehrer heran. Schliesslich erlernte er in einem Jahreskurs an der Kantonsschule in Pruntrut (Kanton Jura) die französische Sprache. Seinen Schwestern wollte der Gedanke nicht einleuchten, dass ihr Liebling Rudolf nun als gewöhnlicher Landschulmeister in irgendeinem abgelegenen Winkel versauern sollte. Der Plan, ihn als Hauslehrer ins Ausland zu locken, ging nicht in Erfüllung. Rudolf Wehren wählte die Rückkehr in die Heimat. 1867 trat er sein Amt als Lehrer an der damals ungetrennten Schule Grund bei Gstaad an.
Es folgten 42 Jahre (1867-1873) als Lehrer, in denen er an der Schule im Grund und bis zu seiner Pensionierung 1909 an der Oberschule in Saanen arbeitete. Er liebte seine Schüler:innen und wusste sie mit seinem originellen, geistreichen und mit Humor gewürzten Unterricht zu packen und zu Selbsterziehung zu veranlassen. Als er demissionierte, bedankte sich die Gemeindeversammlung am 27. August 1909 für die geleisteten Dienste unter grossen Beifallsbekundungen – oder wie man heute sagen würde: mit Standing Ovations. Die Behörden veranstalteten zudem eine Abschiedsfeier, aus der ein Grossanlass entstand. Als Nachfolger wählte der grosse Gemeinderat einstimmig Robert Marti, der später sein Schwiegersohn werden sollte und der mit seiner Geschichtsforschung und seinen Publikationen weit über das Saanenland hinaus bekannt wurde.
Das Glück gefunden: Maria Adele von Siebenthal
Rudolf Wehren heiratete am 27. September 1880 Maria Adele von Siebenthal (1858-1922), die Tochter des Grossrats und Amtsrichters Johann Gottlieb von Siebenthal und Maria Hauswirth aus Saanenmöser. Gemeinsam hatten sie sechs Kinder: Karl Rudolf (1881), Gottfried Ernst (1883), Hans Arnold (1884), Gottlieb Ferdinand (1885), Emil Robert (1887) und Sophie Adele (1889). Die Familie führte ein glückliches Leben, obwohl die finanziellen Engpässe gerade in den wirtschaftlich schwierigen 1880er- und 1890er-Jahren manche Sorgen bereiteten. Kluge Berechnung und Einteilung der finanziellen Mittel waren erforderlich. Maria Adele Wehren war der tragende Rückgrat der Familie.
Im Dienst der Öffentlichkeit – mit Herz
Ausserhalb seiner Schultätigkeit nahm er rege am öffentlichen Leben teil. Von 1886 bis 1922 übte er das Amt des Zivilstandsbeamten aus, durch das er in engem Kontakt mit seinen Landsleuten stand. Er arbeitete nicht nur mit dem Kopf, sondern sein Herz war ebenso sehr dabei: Sein tiefes Gemüt freute sich mit den Fröhlichen und trauerte mit den Traurigen. Ruedi Wehren stellte sich uneigennützig in den Dienst von Wohlfahrtseinrichtungen wie Suppenanstalt, Krankenvereine, Krankenhaus und Armenfürsorge. Dank seinem Interesse für Kunst und Geschichte hatte er schon früh erkannt, dass in der Saanenkirche bedeutende Wandbilder hervorgeholt werden könnten, was dann auch in den 1920er-Jahren geschah.
Schliesslich war er auch ein aktives Mitglied verschiedener Vereine: in der Sektion «Wildhorn» im SAC, bei der Feldschützengesellschaft, im ersten Turnverein des Saanenlandes und im Männerchor. Dem Letzteren leistete er nicht nur mit seiner gewaltigen Bassstimme ausgezeichnete Dienste, sondern auch als talentierter Theaterspieler, als Vorstandsmitglied, als hervorragender Gesellschafter und als Tafelmajor. Auf seine Initiative hin führte der Männerchor 1893 erstmals das Saaner Drama «Niklas Baumer» von J.J. Romang auf und er übernahm die Titelrolle. In früheren Jahren war Ruedi Wehren auch dichterisch tätig: Sein «Saaneliedli», in dem er jede Bäuert treffend charakterisiert, ist bis in die Gegenwart bekannt.
Sein eigenes Werk: der «Anzeiger von Saanen»
Mit viel Arbeit und unter grossen finanziellen Opfern gründete Rudolf Wehren 1881 den «Anzeiger für Saanen und Obersimmenthal». Wehrens Anliegen war es, den neuen «Anzeiger» nicht zur Austragung politischer Streitigkeiten und für persönlichen Hader zu öffnen, sondern als Bindemittel des Verkehrs und auch der Geister zu gestalten. Das erste Jahresabonnement des «Anzeigers» kostete 3.50 Franken, das halbjährliche zwei Franken. Am Mittwoch, 5. Januar 1881 erschien die erste Nummer und eröffnete die 143-jährige Geschichte dieser Zeitung. Unter seiner Redaktion erschien der «Anzeiger» einmal wöchentlich. Das Blatt wurde in der Imprimerie Eug. Guillat in Château-d’Oex gedruckt, aufgrund diverser Probleme wechselte Wehren im Januar 1884 zur Imprimerie de la Gruyère in Bulle. Sie erwies sich als zuverlässige Partnerin.
Trotz des Fleisses und dem Gemeindebeitrag von 250 Franken für das Jahr 1884 war das Blatt immer noch nicht finanziell selbsttragend. Wehren schrieb in seinem Rückblick, dass er nach sechs Jahren «Tausende von Franken Bargeld verloren» habe, «meine Mühe und Arbeit gar nicht gerechnet». Er schrieb das Blatt zum Verkauf aus, Eugen Stämpfli erwarb den «Anzeiger» – er war Verleger des Geschäftsblattes in Thun. «Ich war niemals reuig, denn Herr Stämpfli, als sehr gewandter Geschäftsmann, hat dem Anzeiger immer die gleiche Liebe und Sorgfalt angedeihen lassen, wie seinem Leibblatt», schrieb er. Wehren redigierte bis zu seinem Tod – also 43 Jahre lang – den «Anzeiger».
Verlust der Liebsten
Eine unermüdliche Gesundheit liess Rudolf Wehren bis weit über sein 70. Lebensjahr hinaus tatkräftig wirken.
So konnte er an seinem 75. Geburtstag – am 7. April 1921 – in den Spalten seines sorgsam betreuten «Anzeigers» die wohlverdiente Ehrung entgegennehmen. Überschattet war die Geburtstagsfeier durch die Krankheit seiner Frau, die am 12. Oktober 1922 ihren langen, schweren Leiden erlag. Als Vereinsamter zog Ruedi Wehren nun zu seinem jüngsten Sohn Robert nach Saanenmöser. Doch schon bald sollte ihn ein weiterer schwerer Schicksalsschlag treffen: Sein Sohn Ferdinand, der am 23. September 1923 mit seinem Freund Christian von Grünigen von der Farb am Gordon-Benett-Ballonfliegen in Brüssel gestartet war, stürzte am folgenden Tag ab und fand dabei den Tod. An dieser seit 1906 durchgeführten abenteuerlichen Wettfahrt legten die Teilnehmer verschiedener Nationen jeweils bis zu mehrere Tausend Kilometer zurück und waren dabei tagelang unterwegs. Infolge Unwetters und Blitzschlags stürzten 1923 mehrere der 15 gestarteten Ballone ab und fünf Fahrer erlagen dabei ihren Verletzungen. Mehrere Schlaganfälle erschütterten die Gesundheit von Rudolf Wehren, doch vollends wurde sie nun durch den Tod seines Sohnes gebrochen. Er durfte in der ersten Morgenstunde des 19. Oktobers 1923 sanft einschlafen.
Zusammengestellt von Jocelyne Page. Auszüge aus «Die Anfänge des Anzeigers von Saanen» von Benz Hauswirth und Brigitte Leuenberger, Saanen, erschienen im «Saanenland – Hier verwurzelt. Hier zuhause – 125 Jahre Anzeiger von Saanen», Müller Marketing & Druck AG, Gstaad, 2005.