Staatsstreich in Bolivien?
05.07.2024 KolumneAm 26. Juni versuchte der abgesetzte General Juan José Zuñiga einen Staatsstreich gegen Boliviens Regierung. Er umstellte mit gepanzerten Fahrzeugen die Regierungsgebäude in La Paz und stürmte den Präsidentenpalast. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde der ...
Am 26. Juni versuchte der abgesetzte General Juan José Zuñiga einen Staatsstreich gegen Boliviens Regierung. Er umstellte mit gepanzerten Fahrzeugen die Regierungsgebäude in La Paz und stürmte den Präsidentenpalast. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde der Putsch durch eine neue Armeeführung gestoppt und Zuñiga verhaftet. Stefan Gurtner berichtet.
Am Nachmittag des 26. Juni ist es in Bolivien zu dem Versuch eines Staatsstreichs gegen die demokratisch gewählte Regierung gekommen. Unter dem Befehl des kurz vorher abgesetzten Kommandanten des Heeres, Gen. Juan José Zuñiga, umstellten gepanzerte Kampfwagen die auf dem Hauptplatz von La Paz befindlichen Regierungsgebäude und stürmten den Präsidentenpalast. Bei seiner Ankunft auf dem Platz sagte der General vor der versammelten Presse: «Wir kommen auf Verlangen des Volkes. Das Volk will nicht länger die Plünderung des Landes durch eine Gruppe von Banditen dulden. Unser Land kann nicht länger so weitermachen und nicht jeder kann tun, was er will. Genug ist genug! Wir werden dieses Vaterland wieder aufrichten, genug der Zerstörung; genug eines Heimatlandes, das verarmt; genug der Demütigungen, die unser Heimatland ertragen muss. Es wieder aufzurichten, ist die Pflicht des Soldaten und seiner Streitkräfte.»
Weiter führte er aus, dass er ein neues Kabinett einsetzen würde, aber dass er «für den Moment» den Präsidenten anerkenne. Allerdings stritt er sich anschliessend heftig mit Arce in einem der Gänge des Palastes und verlangte vom General, die Soldaten augenblicklich abzuziehen: «Schicken Sie die Truppen in die Kaserne zurück. Das ist ein Befehl. Oder wollen Sie ihn etwa verweigern?»
Währenddessen kam es in den Strassen der Stadt zu Zusammenstössen zwischen Militäreinheiten und Regierungsanhängern, die mehrere Verletzte forderten, bis endlich auf Befehl einer neu eingesetzten Armeeleitung der Putsch beendet wurde. General Zuñiga selbst flüchtete in einem der Panzerwagen, wurde aber wenig später in seinem Hauptquartier von der Polizei verhaftet.
Wie es zu diesem versuchten Staatsstreich kommen konnte, ist noch ungeklärt und es kann viele Gründe dafür geben. Bolivien wird seit längerer Zeit von einer Wirtschaftskrise geplagt, unter anderem herrscht chronischer Mangel an Devisen und Treibstoff (vor allem Benzin und Diesel) und es herrscht eine sich immer schneller drehende Preisspirale bei den Grundnahrungsmitteln. Die Regierungspartei ist tief zwischen Anhängern des Präsidenten Luis Arce und denen des Expräsidenten Evo Morales gespalten, mit der Folge, dass Arce die Mehrheit im Kongress verloren hat und praktisch regierungsunfähig geworden ist. Dazu kommt, dass seit den Geschehnissen im Jahr 2019 (Sturz von Evo Morales) in der Armee Unzufriedenheit herrscht, weil mehrere hohe Kommandanten wegen ihrer Unterstützung der Übergangspräsidentin Jeanine Añez von der neuen Regierung verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, ebenso wie die Übergangspräsidentin selbst.
Viele politische Analysten waren noch am selben Abend und am Morgen nach dem Putschversuch zu dem Schluss gekommen, dass die Möglichkeit besteht, dass Arce den Coup selbst inszenierte, um seine Popularität zu erhöhen, indem er sich den Militärs mutig und entschieden entgegenstellte, umso mehr der abtrünnige General bei seiner Verhaftung behauptete: «Der Präsident sagte mir, dass die Stimmung im Lande sehr schlecht sei, weshalb es vonnöten sei, darauf zu reagieren, um seine Popularität zu steigern. Ich habe ihn gefragt: ‹Holen wir die Panzerwagen raus?› und er hat geantwortet: ‹Holt sie raus.›»
Wie auch immer, je länger man sich mit dem Thema beschäftigt, desto deutlicher wird, dass manches nicht stimmt oder nicht passt, da zu viele Fragen unbeantwortet bleiben. Wie kann ein General, Vater eines kleinen Sohnes, der kurz vor der Pensionierung steht, nach einer über 30-jährigen Laufbahn seine Karriere einfach nur wegen eines derart improvisierten und unsicheren Abenteuers über Bord werfen? Wieso hat er das Gespräch mit dem Präsidenten, auf das er sich bezieht, wenn es wirklich so stattgefunden hat, nicht wenigstens aufgenommen oder vor Zeugen geführt? Haben sich der Präsident und der General vielleicht missverstanden und dann die Kontrolle über das Geschehen verloren? Wieso hat Zuñiga bei seiner kurzen Rede vor der Presse davon gesprochen, den Präsidenten anerkennen und nur die Minister auswechseln zu wollen? Oder hat der General schlicht und einfach den Verstand verloren?
Abschliessend muss man sich natürlich auch fragen, so wie es ein mit mir befreundeter Analyst getan hat: «Kann man diese Regierung, die seit vielen Jahren politische Gefangene hält, die die Meinungsfreiheit systematisch unterdrückt und Menschenrechtsaktivisten verfolgt, überhaupt noch als demokratisch bezeichnen?»
Man darf gespannt sein, was die Untersuchungen noch alles zutage bringen werden, aber wahrscheinlich wird man die volle Wahrheit nie erfahren. Jedenfalls war dieser Putschversuch nicht nur einer von vielen, die in der Geschichte Boliviens stattgefunden haben, sondern auch einer der merkwürdigsten überhaupt.
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet.