«Langsam fahren, Abstand wahren»

  01.10.2024 Gstaad

Laut der Medienstelle des Bundesamtes für Strassen (Astra) gab es im Durchschnitt der letzten fünf Jahre pro Jahr zehn Unfälle mit mindestens einem Pferdewagen, einer Kutsche oder einem Tierfuhrwerk und 5,8 Unfälle mit Reitern. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Auch im Saanenland hat es schon «brenzlige» Situationen gegeben.

KEREM S. MAURER
Nicht immer steht das Pferd auf dem Flur, wie im 1980er-Jahre-Hit von Klaus&Klaus, sondern es begegnet einem oft samt Reiter:in auf der Strasse. In diesem Fall sollten Verkehrsteilnehmende, egal ob sie mit Autos, Motoroder Fahrrädern unterwegs sind, besondere Vorsicht walten lassen, weil Pferde Fluchttiere sind und bei drohender Gefahr instinktiv die Flucht ergreifen. Zudem sind sie trotz ihrer Grösse eher ängstlich. «Wenn ein Pferd erschrickt, setzt ein Fluchtreflex ein, was zu unberechenbaren, instinktiven Aktionen des Pferdes und infolgedessen zu schweren Unfällen führen kann», erklärt Sarah Matti, die im Vorstand des Reit- und Fahrvereins Gstaad-Saanenland für die Reitwege und deren Sicherheit zuständig ist. So könne ein instinktgeleitetes Pferd beispielsweise einen Sprung zur Seite machen in Richtung des Fahrzeugs oder in die Richtung ausschlagen. Sarah Matti betont, dass auch sichere, an den Verkehr gewohnte und gut trainierte Pferde erschrecken können.

Unerwartete Geräusche vermeiden
«Unerwartete Geräusche wie ein aufheulender Motor, ein Fahrzeug das mit erhöhter Geschwindigkeit durch eine Pfütze fährt, Wind der an einem vorbeifahrenden Lastwagen rüttelt und dergleichen können Pferde erschrecken», sagt Cornelia Heimgartner, Mediensprecherin von Swiss Equestrian, dem nationalen Dachverband der Pferdesportler, Züchter und anderen am Pferdewesen interessierten Personen, und verweist auf die Broschüre «Langsam fahren, Abstand wahren». Darin finden sich Verhaltensweisen von Pferden und Tipps, wie sich Verkehrsteilnehmende ihnen gegenüber korrekt verhalten (siehe Kasten).

Flavio Hauswirth, Präsident des Reitund Fahrvereins Gstaad-Saanenland, der selbst oft mit Pferdegespannen oder Kutschen unterwegs ist, hat nach eigenen Angaben schon viele brenzlige Situationen auf den Strassen im Saanenland erlebt. «Die Leute sind im Strassenverkehr ungeduldiger geworden», stellt er fest. Dies äussere sich oft in gefährlichen Überholmanövern, viel zu nahe an den Pferden vorbei, manchmal auch bei Gegenverkehr. «Im Bewusstsein, dass wir mit Kutschen ein Verkehrshindernis darstellen, weiche ich oft aus und lasse die Autos überholen», sagt er. Grundsätzlich sind Pferde mit Reitenden oder auch Pferdekutschen gleichberechtigte Verkehrsteilnehmende. Was sagen die Fahrschulen dazu?

Umgang mit Tieren ist Lernstoff
Michael Gehrken, Präsident von L-drive Schweiz, dem nationalen Dachverband der Fahrlehrerorganisationen, teilt auf Anfrage mit: «Umgang und Verhalten gegenüber Tieren im Strassenverkehr sind ein Thema in der theoretischen Fahrausbildung. Wir arbeiten diesbezüglich eng mit den entsprechenden Stellen und Verbänden zusammen.» Dennoch gibt es gemäss Gehrken Luft nach oben. «Wir wünschen uns, dass solche Themen mehr Platz bekämen. Die acht Lektionen, welche der Bund für die Verkehrssinnbildung im Verkehrskunde-Unterricht VKU heute vorsieht, reichen nicht, um alle Themen umfassend ausbilden zu können.» Deshalb spreche sich L-drive Schweiz im Zuge der aktuell laufenden Vernehmlassung dafür aus, dass die theoretische Grundausbildung im VKU auf 16 Lektionen erhöht werde.

Die Kantonspolizei Bern rät, Reiter oder Pferdegespanne in «angemessener Geschwindigkeit» und mit «gebührendem» Abstand zu überholen.

Auch Velos sollten Abstand halten
Velofahrer:innen sind schnell und leise unterwegs, erst recht, wenn sie elektrisch unterstützt oder mit Rennvelos daherkommen. Christoph Merkli, Leiter Infrastruktur und Politik bei Pro Velo Schweiz, sagt: «Gegenüber Tieren gilt erhöhte Aufmerksamkeit. Sie sollen generell nicht zu nahe überholt werden.» Er empfiehlt einen Abstand von mindestens zwei Metern und ergänzt: «Velofahrende, die sich von hinten nähern, sollen sich frühzeitig durch Klingeln oder rufen bemerkbar machen.»

Doch dieses korrekte Verhalten wird jungen Velofahrenden nicht beigebracht. Merkli bestätigt: «Damit man mit Velos und langsamen E-Bikes auf die Strasse darf, braucht man weder eine Ausbildung noch eine Prüfung oder einen Ausweis.» Einzige Ausnahme: Kinder von 14 bis 16 Jahren benötigten für langsame E-Bikes (bis 25 km/h) einen Mofa-Führerschein. Sind sie älter, entfällt auch diese Vorgabe. Selbst die an Schulen durchgeführten Veloprüfungen seien weder obligatorisch noch verbindlich. Allerdings bräuchten alle für schnelle E-Bikes (bis 45 km/h) einen Mofa-Führerschein. Gibt es Kurse für Velofahrende, die lernen wollen, wie man sich Tieren gegenüber im Strassenverkehr korrekt verhält? Christoph Merkli: «Dazu ist uns nichts bekannt.»

Hunde kurz nehmen
Ein Pferd nehme einen Hund als Raubtier wahr, erklärt Sarah Matti. Entsprechend könne es auf Hunde mit Ausschlagen reagieren und diese lebensbedrohlich verletzen. Gefährlich könne es aber auch für die Reitenden werden, wenn sich ein Hund einem Pferd – schlimmstenfalls von hinten – nähere, so Matti weiter. «In solchen Fällen kann ein panisches Pferd im instinktiven Fluchtmodus seinen Reiter schwer verletzen.» Wie sollten sich denn Hundehaltende verhalten?

Daniel Aebli, Präsident des Hundesportvereins Saanenland, sagt es kurz und bündig: «Im Strassenverkehr ist ein Hund an der Leine und auf dem Trottoir auf der rechten Seite des Halters zu führen.» Und wenn sich den Hundehaltenden ein Pferd oder ein Pferdegespann nähere, sei der Hund kurz zu halten. «In diesem Fall wende ich mich zusammen mit dem Hund vom Pferd oder dem Gespann ab und lenke seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.» Auf einer Hauptstrasse oder einer stark befahrenen Strasse sei ein Hund grundsätzlich an der Leine zu führen. Auf Neben- oder Zubringerstrassen könne man auf freilaufende Hunde treffen. Dann sollten Autofahrende ihr Tempo anpassen und sicherstellen, dass Hundehaltende Zeit haben, ihre Tiere zu sich zu rufen und bei sich zu halten, bis das Auto vorbeigefahren ist. Erst danach sollen die Hunde wieder freigelassen werden.

Fahrradfahrende, die auf Hunde treffen, verhalten sich ähnlich wie bei Pferden: Sie sollen sich frühzeitig bemerkbar machen und das Tempo anpassen. «Fährt ein Velo zu schnell oder zu nah an einem Hund vorbei, kann dieser erschrecken und hört auf keine Kommandos mehr. Schlimmstenfalls rennt der Hund dem Velofahrer ins Rad», so Aebli.

Die Medienstelle der Kantonspolizei Bern hält in diesem Zusammenhang auf Anfrage fest: «Egal ob ein Fussgänger mit oder ohne Hund unterwegs ist, er gilt im Strassenverkehr als Fussgänger. Entsprechend muss ein E-Bikeoder Velofahrer auf diesen Rücksicht nehmen und sich allenfalls bemerkbar machen.»

 


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote