Unruhen in Frankreichs Kolonien
29.09.2023 Kolumne«Françafrique» nennt man den dominanten Einfluss der Republik Frankreich auf seine 19 ehemaligen Kolonien in Afrika. Es sind dies Algerien, Tunesien, Niger, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Dschibuti, Madagaskar, Kongo, Gabun, Kamerun, Benin, Togo, Elfenbeinküste, Guinea, ...
«Françafrique» nennt man den dominanten Einfluss der Republik Frankreich auf seine 19 ehemaligen Kolonien in Afrika. Es sind dies Algerien, Tunesien, Niger, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Dschibuti, Madagaskar, Kongo, Gabun, Kamerun, Benin, Togo, Elfenbeinküste, Guinea, Senegal, Mauretanien, Marokko, Mali und Burkina Faso. Formell und auf dem Papier sind alle diese Kolonien einmal «befreit» worden. Im amtlich diplomatischen Wortlaut sagt man dem so: Sie wurden «in die Unabhängigkeit entlassen». Aber für Thomas Borrel – Vertreter der NGO Survie und Co-Autor des Sammelbands «Das Imperium, das nicht sterben will» – ist nun diese «Fran- çafrique» nichts mehr anderes als ein Herrschaftssystem. Frankreich hatte es errichtet, um seinen Einfluss im Kontinent aufrechtzuerhalten, als in der Folge des Zweiten Weltkriegs auch die afrikanischen Kolonien ihre Selbstständigkeit erlangten.
Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution wurde Afrika von Abenteurern und Forschern heimgesucht. Das europäische Interesse war jedoch noch nicht kultureller oder sozialer, geschweige denn politischer Natur. In den Quellgebieten von Nil, Niger und Kongo – den grossen Flüssen Afrikas – wurde in erster Linie nach Gold geforscht, gesucht und gegraben. Doch mit den aufklärerischen Ideen verbanden die Europäer später auch missionarische Aktivitäten. Den «Wilden» überbrachte man die christliche Heilsbotschaft.
Im Schlepptau der Kirchen wurden Handel, Wirtschaft, Wissenschaft und bald auch die Armee aktiv. Als Kolonien sind schon damals die einzelnen Länder durch vertragliche Beziehungen – insbesondere durch Schutzmachtverträge – herausgebildet worden. Der Handel bestand in der einfachen Logik: Sicherheit gegen Schürfrechte. Heute bezieht Europa und die übrige Welt aus Afrika Kobalt, Diamanten, Platin, Uran sowie Erdöl und Erdgas. Allein Südafrika ist global führend in der Herstellung von Chromit, Ferrochrom, Palladium, Platin und Gold. Südafrika ist aber auch der zweitgrösste Produzent von Mangan (Spurenelement), Rutil (Antioxydans) und Zirkon (wird als Schmuck oder auch in der Medizin für die Produktion von Prothesen verwendet).
Allerdings haben nun seit zwei Jahren in den ehemals französischen Kolonien Revolten begonnen, welche einstweilen zum Rückzug der französischen Armee in Mali und Burkina Faso geführt haben. Gerade Anfang dieser Woche meldete die Zeitung «Le Monde», Präsident Emmanuel Macron habe den französischen Botschafter in Niamey (Niger), Sylvain Itté, abberufen. Vermutlich werden auch in Niger bald französische Truppen abgezogen. Anders ausgedrückt: Die französische Armee flüchtet vor den Aufständischen. Im Communiqué aus Paris nennt man sie der Einfachheit halber «Terroristen». Der Rückzug aus den ehemaligen Kolonien bedeutet gleichzeitig nicht nur das Ende der militärischen Kooperation, sondern auch den Abbruch von Entwicklungszusammenarbeit und gegenseitiger finanzieller Unterstützung. Ein Umschwung von historischem Ausmass bahnt sich an.
Noch vor ein paar Jahren konnte man im Organ «Deutsche Wirtschafts-Nachrichten» lesen: «Der französische Staat kassiert von seinen ehemaligen Kolonien jährlich 440 Milliarden Euro an Steuern. Frankreich ist auf die Einnahmen angewiesen, um nicht in der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit zu versinken, warnt der ehemalige Präsident Jacques Chirac. Der Fall zeigt: Eine gerechte Welt ist schwer möglich, weil die ehemaligen Kolonialmächte von der Ausbeutung selbst abhängig geworden sind.»
Mit anderen Worten: Die Unruhen in Afrika werden absehbare wirtschaftliche und kulturelle Folgen für Frankreich und wohl auch für Europa haben.
OSWALD SIGG
JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER oswaldsigg144@gmail.com