Verdienen Verschwörungstheoretiker eine zweite Chance?

  30.09.2022 Kirche

Also ging ich diese Strasse lang und die Strasse führte zu mir. Das Lied, das du am letzten Abend sangst, spielte nun in mir. Noch ein paar Schritte und dann war ich da, mit dem Schlüssel zu dieser Tür. Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr. (…) Nicht mit vielen wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr. Manche treten dich. Manche lieben dich. Manche geben sich für dich auf. Manche segnen dich. (…)

XAVIER NAIDOO, «DIESER WEG»

Dieses Lied schlug 2005 nicht nur bei mir ein, sondern auch bei vielen anderen, die damals ähnlich dachten wie ich. Xavier Naidoo war damals in der Hitparade und auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Der kryptische Text lässt sich ganz einfach auf ein Christenleben übertragen, welches die Bergpredigt ernst nimmt. Dort sagt Jesus:

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heissen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind. (Matthäus 5,3–12)

War dieses Lied nicht einfach als ein moderner Hinweis auf diese Seligpreisungen zu verstehen? Für mich war das ein klarer Fall: Da ist jemand, der die Welt verändern möchte, wie ich damals auch. Wer sich konsequent für die Schwachen dieser Welt einsetzt und für Frieden einsteht, für den ist doch dieser Weg steinig, genau so, wie es Jesus vorhergesagt hat. Naidoo selbst bekannte sich in diesen Jahren immer wieder zum Christentum, manchmal deutlich, manchmal auch kryptisch. Als ich vor einigen Jahren las, dass Naidoo ein Verschwörungstheoretiker sei und antisemitische Gedanken äussere, traf mich fast der Schlag. Und nicht nur mich, auch etliche Journalisten beschrieben Ähnliches. Einer beschrieb, wie er sich verraten fühle und dieses Lied nicht mehr hören könne, da Naidoo nun plötzlich diesen Text aus verschwörungstheoretischer Sicht verstand. Ja, Naidoo meinte gar, diesen Text schon immer von diesem Blickwinkel her verstanden zu haben. Welch ein Schock, denn die Verschwörungstheoretiker sehen sich ja – ähnlich wie ich damals – als «die Erwachten», die auf dem schmalen, aber richtigen Weg sind, im Gegensatz zu den «Schlafschafen», die die Wahrheit nicht kennen und «aufgeweckt» werden müssen. Als Verschwörungstheoretiker hat man gegen viele Widerstände zu kämpfen, gegen all diejenigen, die Mainstreammedien konsumieren und mit der Masse laufen. Dieser Weg kann ganz schön steinig und schwer sein.

Naidoo hat in den letzten Jahren eine enorme Plattform für rechtsextremes, antisemitisches Gedankengut und Verschwörungstheorien geboten und via seine Social-Media-Accounts verbreitet und verbreiten lassen. Er hat diesen Bewegungen vor allem im deutschsprachigen Raum enormen Auftrieb gegeben. Umso mehr hat er Mitte April dieses Jahres viele erstaunt, als er auf Youtube ein Statement abgab, indem er sich von all diesen Dingen distanzierte. In einem gut drei minütigen Video sagt er Folgendes:

«(…) Die Tatsache eines Krieges, der gar nicht weit weg von uns entfernt ist, haben mich schockiert und tief erschüttert. Meine Frau kommt aus der Ukraine und ihre – unsere – Familie lebt dort. (…) Die Welt scheint wie auf den Kopf gestellt. Und ich habe mich gefragt, wie es so weit kommen konnte. Jetzt habe ich auch viel mit Betroffenen und Freunden gesprochen und musste mich auch kritischen Fragen zu Äusserungen von mir in der Vergangenheit stellen. Hierfür bin ich im Nachhinein dankbar. Denn das war für mich ein Grund, mich kritisch zu hinterfragen. Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es ist, sich selbst zu reflektieren. Ich habe erkannt, auf welchen Irrwegen ich mich teilweise befunden habe und dass ich in den letzten Jahren viele Fehler gemacht habe. Mir wurde bewusst, dass ich meine Familie, meine Freunde, meine Fans, Menschen, die mich verteidigt haben, aber auch viele andere Menschen mit verstörenden Äusserungen irritiert und provoziert habe, für das ich mich entschuldigen möchte. Ein zentraler Punkt meines Charakters ist die Suche nach Wahrheit. Wer sich auf diese Suche macht, der macht sich auch auf den Weg, auf diesem Weg trifft man natürlich auch viele Menschen mit den unterschiedlichsten Ansichten. Dieser Weg geht auch nicht geradeaus und es gibt viele Abzweigungen und er ist manchmal schwierig. Hierbei habe ich mich letztlich verrannt. (…) Habe mich zum Teil instrumentalisieren lassen. Bei der Wahrheitssuche war ich wie in einer Blase und habe mich vom Bezug zur Realität entfernt. Das habe ich leider jetzt erst erkannt. Ich habe Dinge gesagt und getan, die ich heute bereue. Mir ist es deshalb wichtig, euch zu sagen, dass ich mich von allen Extremen distanziere, insbesondere und vor allem auch von rechten und verschwörerischen Gruppen. (…) Hierfür entschuldige ich mich und bitte euch um Verzeihung.»

Dieses Statement wurde in vielen deutschen Medien kritisch aufgenommen. Man unterstellte ihm, jetzt, wo die Coronamassnahmen gelockert würden, könnte er wieder auf Mainstream umschwenken, ansonsten würden ihm die Felle davonschwimmen. Tatsächlich aber ist er seither untergetaucht. Er postet kein besagtes Gedankengut mehr auf seinen Kanälen und gab kein einziges Konzert mehr. Er wird stattdessen in Spanien vermutet, wohin er sich mit seiner Familie zurückgezogen hat. Wie ist sein Statement zu werten? Hierfür habe ich bei Georg Otto Schmid von Relinfo, der evangelischen Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen nachgefragt. Schmid meint, man könne dieses Statement nicht beurteilen, es sei zu vage formuliert. Es könne durchaus sein, dass der Ausbruch des Krieges ein kritisches Umdenken hervorrufe. Auf meine Frage, ob meine These, dass ein Extremereignis und gute Freunde wichtige Punkte seien auf dem Weg zum Ausstieg, meinte er: «Es gibt drei Phasen: Die Einstiegsphase, in der man aus Interesse immer mehr in diese alternative Wahrnehmung hineinrutscht. Die Überzeugungsphase, während der man missionarisch tätig wird und andere von seiner Sicht überzeugen will, und die Ausstiegsphase, wenn man plötzlich Zweifel hegt. In der mittleren Phase können kritische Fragen zu Kontaktabbruch führen.» Das werde intern so gelehrt. Wenn jemand also stark missionarisch tätig sei, dann sei es besser, als Freund einen Schritt zurückzumachen und ihn nicht überzeugen zu wollen. Es gelte, den richtigen Moment in der Ausstiegsphase zu erkennen, wenn die Verschwörungstheoretikerin Zweifel an der ganzen Sache hege und offen für Kritik werde. Dann könne ein Umdenken tatsächlich stattfinden. In den Verschwörungstheorien werden interessanterweise ausgerechnet Russland und Putins alternative Sicht auf die Welt positiv bewertet. Mit dem Angriff auf die Ukraine wurde Putin nun nicht mehr als ein intelligenter Taktiker gesehen, als was ihn viele Putin-Versteher sahen, sondern als Kriegsfürst, der vor nichts zurückschreckt. Dies hat – meiner Meinung nach – vielen die Augen geöffnet. Viele glauben aber weiterhin, dass der Angriff auf die Ukraine nur vom Westen inszeniert sei und gar nicht wirklich stattfinde. Naidoo aber hat die Grässlichkeit des Krieges selber erlebt und kennt die Ukraine besser als die meisten Menschen in unseren Breitengraden. Deshalb glaube ich ihm, wenn er sagt, dass dieser Angriffskrieg am Anfang seiner Wende stehe. Auch macht er (noch) keinen Gewinn aus dem Ganzen. Er zieht sich vielmehr zurück. Vielleicht tut ihm – wie das verschiedene Protagonisten in der Bibel erlebt haben – diese «Wüstenzeit» gut und er kann seine Gedanken ordnen und sich fragen, wie es nun konkret weitergehen soll.

Welche Faktoren waren zentral für seine Wende? Wie er selbst sagt, war es einerseits der Krieg, aber es waren auch seine Freunde, die ihm kritische Fragen stellten. Dank ihnen habe er sich selbst reflektiert und es scheint, als sei er gerade durch sie auf eine andere Sichtweise gelenkt worden. Wer Verschwörungstheorien anhängt und sie passiv konsumiert oder aktiv weiterverbreitet, braucht Mut, sich öffentlich oder unter Freunden dagegenzustellen. Naidoo wehte ein starker Wind von seinen ehemaligen Mitstreitern entgegen. Er wurde via soziale Medien übel beschimpft. Ich aber finde: Naidoo und auch alle anderen Verschwörungstheoretiker haben eine zweite Chance verdient. Geben wir ihnen als Freunde die Hand, lachen wir nicht über sie und nehmen wir sie ernst auf der Suche nach der Wahrheit. Jeder kann sich auf dieser Suche verirren und es wäre herablassend zu meinen, man hätte die absolute Wahrheit gepachtet und dürfe seine Meinung nicht ändern. Klar müssen nach solchen Worten auch Taten folgen. Die sehen wir bei Naidoo leider (noch?) nicht. Um glaubwürdig zu scheinen, müsste er – meiner Meinung nach – etliche seiner Lieder, in denen er z.B. Juden beschimpft, aus den Musikplattformen entfernen lassen. Wir sind gespannt, wann und wie Naidoo wieder auftauchen wird.

DANIEL BURRI


DIE DREI ERWÄHNTEN PHASEN GEMÄSS GEORG OTTO SCHMID

Einstiegsphase, auch Interessensphase genannt: Der Betroffene interessiert sich neugierig, häufig via Internet für verschiedene Fragen rund um Verschwörungen. Er ist aber noch offen für journalistisch fundierte Artikel in Zeitungen und Homepages.
Überzeugungsphase: In dieser Phase werden keine Mainstream-Medien mehr konsumiert. Zu Freunden, welche kritische Fragen stellen, wird der Kontakt möglicherweise abgebrochen. In dieser Phase ist der Mensch missionarisch tätig.
Ausstiegsphase: Z.B. aufgrund eines schwerwiegenden Ereignisses beginnt der Betroffene zu zweifeln. Er öffnet sich für Kritik und beginnt, einen weiteren Blick zu erhalten.

PD


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