Videmanette-Abfahrt «all inclusive»

  21.07.2022

Sind Sie schon einmal Cimgo gefahren? Am vergangenen Samstag durften sich bei bestem Sommerwetter den ganzen Tag lang Personen mit oder ohne Handicap ins Abenteuer stürzen.

SONJA WOLF
Helm auf, die Gurte über den Schultern und Schienbeinen rasten ein – und los gehts! Eine kleine Gruppe von vier Cimgos macht sich an die Abfahrt. Vier erfahrene Piloten lenken die wuchtigen Geländekarts, wir Insassen sind zwei Menschen mit und zwei ohne Beeinträchtigung. Die Wanderer an der Bergstation der Videmanette-Gondelbahn schauen uns mit grossen Augen an und auch mir als Journalistin des Aktionstages und Probefahrerin schlägt das Herz ein wenig schneller: Direkt der Beginn der Abfahrt vor der Bergstation geht schon sehr steil abwärts und ist mit Steinen aller Grösse besät – einige erschreckend grosse Brocken sind auch dabei. Ob die Räder und vor allem die Bremsen des Cimgo dem standhalten? Doch schon nach wenigen Minuten schlägt der erste Stress in Bewunderung um. Und diese steigt noch weiter an, je vielseitiger der Weg wird: Es geht über hohe Wiesen, rutschige Steinhänge, schlammige und verwurzelte Waldwege. Die Motocrossreifen und die Scheibenbremsen unseres Gefährtes halten den Widrigkeiten stand und auch die Piloten behalten die Nerven und bleiben lustig und entspannt.

Ein Stück Normalität
Doch meine Bewunderung wächst nicht nur aufgrund der technischen Daten unserer Gefährte. Denn dank diesen ist eine inklusives Freizeitgestaltung bzw. ein inklusiver Tourismus überhaupt erst möglich. Eine Normalität für einen gesunden Menschen, nämlich bei schönstem Sommerwetter durch die blühende Natur eine sportliche Wanderung auf der Videmanette zu unternehmen, wäre Menschen mit Beeinträchtigung ansonsten verwehrt.

Eine etwas andere «Wanderung»
Das Ganze kostet natürlich ein wenig mehr Aufwand, doch der lohnt sich aufgrund des Spasses, den die Akteure und die Geniesser zweifelsohne haben. Die Person wird zunächst einmal angegurtet und ihrem Handicap entsprechend an verschiedenen Stellen gegen die Schockwellen gepolstert. Damit das recht umfangreiche Gefährt in die Gondelbahn passt, wird der Schalensitz, in dem die beeinträchtigte Person sitzt, vom Chassis mit den vier Rädern getrennt und gesondert auf den Berg geschickt. Oben angekommen wird die Person mit Handicap mitsamt ihrem Schalensitz wieder auf das Chassis montiert. Das erfordert einiges an Muskelarbeit, denn allein das Cimgo wiegt etwa 90kg. Und dann gehts ans «Ahifahre»!

Alles zum Wohl der Passagiere
Die ganze Fahrt wird an die individuellen Bedürfnisse des Passagiers angepasst und läuft also entweder gemütlich oder auch sportlich-rasant ab. Laurence, die eine Dame mit Handicap in unserer Gruppe, ist beispielsweise eine begeisterte Cimgo-Fahrerin – eine Wiederholungstäterin sozusagen –, der es nicht rasant genug gehen kann. Ich selbst hatte das Vergnügen, neben der 21-jährigen Maé abzufahren. Maé ist die Tochter von Steve Birbaum, dem Präsidenten von Différences Solidaires, der das Cimgo auch selbst fuhr. «Da Maé nicht spricht, ist es umso wichtiger, zwischendurch kleine Pausen einzulegen, um zu sehen, ob sie sich wohlfühlt oder noch gut sitzt», erklärte er vor der Abfahrt. Anhand ihrer Gestik haben wir allerdings später sehr gut gemerkt, dass der Ride ihr Spass machte. Nur an einer Stelle, wo es ganz offensichtlich zu sehr ruckelte, zeigte sie ihre «Jetzt-gefällt-es-mir-nicht»-Geste mit dem Arm vor dem Gesicht. Marie-Luise Wagner von Différences Solidaires, die mein Cimgo steuerte, gab weitere Einblicke: «Der Pilot fährt ganz nach Wunsch der beeinträchtigen Person zum Beispiel näher an Kühe heran oder pflückt auch einmal ein paar Blumen und bringt sie seinem Passagier zum Dranriechen. Eben das komplette Wanderprogramm.»

Gebündelte Energien
Der Aktionstag am vergangenen Samstag war auf Anregung des regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut organisiert worden. Die Vereine Capdenho von Château-d’Œx, Différences Solidaires mit Sitz in Crésuz und die Stiftung Loisirs pour Tous von Châtel Saint-Denis waren die Ausführenden. Sie haben inzwischen bereits zum zweiten Mal ihre Energien, ihr Material und ihre Piloten zusammengeschlossen, um der Öffentlichkeit an Ständen an der Talstation ihre Aktivitäten vorzustellen und die Interessierten ihre Gefährte ausprobieren zu lassen. Auch einige Mountaincarts standen für nicht oder sehr leicht Beeinträchtigte zur Verfügung. «Die erinnern an das Videospiel ‹Mario Kart› und sind besonders bei Jugendlichen beliebt», so Marie-Luise Wagner mit einem Schmunzeln.

Keine finanziellen Nachteile für Sportler mit Handicap
Die Beteiligten der drei Vereine arbeiten hauptsächlich ehrenamtlich. Doch es gibt auch relativ hohe Kosten zu begleichen: Da sind einmal die Anschaffungskosten der Geräte – ein Cimgo kostet etwa 9000 Franken –, das Schutzmaterial oder die Gehälter der Piloten, die teils von weither kommen. Auch die allgemeinen Aktionstage sind aufwendig und die Buchungen individueller Sporttage durch Einzelpersonen, die jederzeit während der Saison möglich sind, kosten den Verein etwa 500 Franken pro Tag. All diese Kosten werden durch Sponsoren gedeckt. «Denn das Ziel unserer Organisation ist es, dass die beeinträchtigte Person nicht mehr bezahlen soll als jeder Sportler, der ein Tagesticket für die Bergbahn kauft zum Wandern oder Mountainbikefahren», betont Caroline Rosat, die Präsidentin von Capdenho. Ähnlich funktioniere die Finanzierung auch bei den Différences Solidaires, bekräftigt Präsident Steve Birbaum.

Nehmen und Geben bereitet gleichermassen Freude
Der ganze Nachmittag hat mich jedenfalls sehr beeindruckt und fröhlich gestimmt. Die Stimmung war wunderbar gelöst und nicht nur die Menschen mit Beeinträchtigung haben die sportliche Aktivität sichtlich genossen.

Übrigens: Was meine Cimgo-Kollegin Maé betrifft: Sie fährt dank des Engagements der Vereine auch Dualski im Winter und hat sogar schon Gleitschirmfliegen und ein Schwimmen mit Delfinen ausprobiert.

www.capdenho.ch www.differences-solidaires.ch/de www.loisirspourtous.ch/de


INKLUSIVER TOURISMUS

Inklusiver Tourismus bedeutet, Räume, Gemeinschaften, Gebiete, Gastfreundschaft, Dienstleistungen, Verpflegung, Wege und Mobilität für alle zugänglich und nutzbar zu machen und so zu sozialem Wohlstand und allgemeinem wirtschaftlichem Wert beizutragen.

Vor allem aber bedeutet es, die Menschen glücklicher zu machen, indem es allen, niemand ausgenommen, ermöglicht wird, die Schönheit und den Reichtum des kulturellen und ökologischen Erbes zu geniessen.

RE-MOOVE.IT


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote