Vier Strassenkinder und ein Hund: «Krumme Pfote»
03.02.2023 KolumneNach vielen Berichten über die Kinder und Jugendlichen von Tres Soles, Luis Espinal und nun auch Indigo Sol möchte ich gerne in den folgenden Bolivienspalten das Buch «Krumme Pfote» vorstellen, das die harte Wirklichkeit dieser Kinder ungeschminkt darstellt.
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Nach vielen Berichten über die Kinder und Jugendlichen von Tres Soles, Luis Espinal und nun auch Indigo Sol möchte ich gerne in den folgenden Bolivienspalten das Buch «Krumme Pfote» vorstellen, das die harte Wirklichkeit dieser Kinder ungeschminkt darstellt.
Die Erzählung richtet sich in erster Linie an Kinder und Jugendliche und ich leite sie in etwa mit folgenden Worten ein: «Liebe Kinder und Jugendliche, liebe Erwachsene, es ist für euch bestimmt nicht einfach, euch vorzustellen, wie das ist, bei eisiger Kälte in einem dünnen, zerrissenen T-Shirt ohne eine wärmende Decke nachts draussen auf der Strasse auf dem Boden schlafen zu müssen. Die Kinder, die das tun, nennt man Strassenkinder, denn sie haben kein Zuhause und auch keine Eltern, die für sie sorgen; deshalb sind sie auch immer hungrig und durstig. Nicht nur das! Sie gehen nicht zur Schule und können folglich nicht lesen und schreiben, keinen Beruf erlernen und kein Geld verdienen, weshalb sie betteln und stehlen müssen, um zu überleben.
Während einer öffentlichen Lesung meines Buches ‹Krumme Pfote› fragte mich ein älterer Junge am Schluss der Veranstaltung: ‹Seit der Veröffentlichung Ihres Buches hat sich doch sicher etwas an der Situation der Strassenkinder, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, geändert?›
Ich musste dem Jungen antworten, dass sich an ihrer Lage leider nicht viel geändert hat, obwohl Bolivien seit mehr als 15 Jahren eine sozialistische Regierung hat. Natürlich ist es schwierig für Kinder, sich etwas unter dem Wort Sozialismus vorzustellen, darum bitte ich die Jugendlichen und Erwachsenen unter euch Lesern, ihnen zu erklären, was Sozialismus bedeutet. Das Traurige an der heutigen Situation ist, dass es nicht mehr nur Kinder sind, die auf der Strasse leben, sondern inzwischen sind es sogar zwei oder drei Generationen, die diesem Elend ausgesetzt sind.»
Weiter führe ich in meinem Vorwort aus: «Meine Frau Guisela und ich haben deshalb vor langer Zeit mit der Unterstützung unserer Verwandten und Freunde ein Haus eingerichtet, in dem diese Kinder wohnen konnten. Sie wurden dort betreut, auch von einem Psychologen und einer Sozialarbeiterin und gingen regelmässig zur Schule. Um über ihre schlimmen Erlebnisse hinwegzukommen, halfen ihnen Aktivitäten wie Musikmachen, Theaterspielen, kreativ beim Karten malen zu sein oder aus Stoff viele, schöne Sachen herzustellen. Das Projekt hiess Tres Soles. Da uns der Staat leider nie bei diesen Bemühungen unterstützt hat, sondern uns immer wieder Hindernisse in den Weg gelegt hat, mussten wir das Projekt mit den Kindern nach 32 Jahren Arbeit schliessen.»
An dieser Stelle habe ich folgendes Beispiel angeführt: «Wenn wir für die Strassenkinder, die zu uns kamen, auf dem Amt Personalausweise beantragt haben, weil sie natürlich keinen hatten, meinten die Beamten allen Ernstes, sie könnten von uns dafür Bestechungsgelder bekommen.»
Auch das ist schwierig, Kindern zu erklären, denn das Recht auf Identität ist eines der grundlegendsten Menschenrechte unserer Zeit überhaupt! Es geht hier nicht um fehlende Gesetze, sondern es handelt sich schlicht und einfach um mangelnde Menschlichkeit, wie es in der Politik und der öffentlichen Verwaltung leider nur allzu oft vorkommt.
«Sie haben sicherlich eine Vorstellung davon, wie viele Mädchen und Jungen dieses Projekt durchlaufen haben, oder?», heisst es weiter in meinem Vorwort. Die Frage kam von einer Frau, die mit ihren Kindern zu der genannten Veranstaltung gekommen war. «Ja, es sind mehrere Hundert», antwortete ich. «Viele haben einen Beruf erlernt und eine Familie gegründet. Einige konnten sogar studieren, andere sind leider wieder rückfällig geworden.»
Ich erzählte damals den kleinen und grossen Zuhörern von den vier Strassenjungen Douglas, Cevero, Hugo und Sixto, denen ich dieses Buch bereits in der ersten Auflage gewidmet habe und die, neben den zwei Hunden «Krumme Pfote» und «Kleiner» auch die Hauptpersonen des Buches sind. Um unsere Projektarbeit nicht zu gefährden, habe ich ganz bewusst als «Erzähler» diese beiden Hunde eingesetzt, die über das Leben der Strassenkinder sinnieren.
Alle vier Kinder haben in Tres Soles gelebt und an unseren Aktivitäten teilgenommen. Einer von ihnen verdient sich heute sein Geld als Strassenhändler, zwei von ihnen sind beruflich recht erfolgreich und der letzte starb leider bei einer Strassenschlägerei. Es sind keine erfundenen Geschichten, sondern sie haben sie mir selbst erzählt. Weshalb ich das erwähne? Es ist mir wichtig aufzuzeigen, dass man zumindest einem Teil dieser Kinder einen Weg in ein menschenwürdiges Leben ermöglichen kann, wie es alle Menschen auf dieser Welt verdienten. Mit ein wenig Unterstützung durch den Staat hätte man sicher viel mehr erreichen können.
«Liebe Leserinnen und Leser,» – so heisst es am Ende in meinem Vorwort – «ich möchte euch nicht mit weiteren Erklärungen und Einzelheiten ermüden, bildet euch selbst ein Urteil: Ja, es ist in der Tat eine traurige Geschichte, aber dennoch gibt es immer dann ein Licht der Hoffnung am Ende des Tunnels – nämlich die Möglichkeit, seine Lebenssituation zu verändern und sei sie auch noch so schlimm –, wenn der Betroffene auch nur ein Quäntchen Unterstützung erhält, begleitet von ein bisschen Verständnis. Nach so vielen Jahren Arbeit und Erfahrungen kann ich mit Gewissheit sagen: ‹Es war nicht umsonst!›»
STEFAN GURTNER
Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, IBAN: CH20 0900 0000 1701 6727 4.