Von der Heilkraft der Stille
26.05.2023 KircheDie Stille kann Wunder wirken und auf manches im Leben eine Antwort geben. Wenn wir Menschen diese Antworten hören möchten, müssen wir jedoch bereit sein, der Stille lange genug zuzuhören. Denn so wie alle wichtigen und entscheidenden Sachen in unserem Leben Zeit brauchen, ...
Die Stille kann Wunder wirken und auf manches im Leben eine Antwort geben. Wenn wir Menschen diese Antworten hören möchten, müssen wir jedoch bereit sein, der Stille lange genug zuzuhören. Denn so wie alle wichtigen und entscheidenden Sachen in unserem Leben Zeit brauchen, braucht auch die Stille ihre Zeit. Vertrauen gewinnt man zum Beispiel nicht im schnellen Vorübergehen, und Freundschaft und Liebe findet man erst recht nicht, wenn man keine Zeit hat. Und das gilt auch für die Heilkraft, die aus der Stille kommt. Wer sagt: «Ich suche noch schnell ein wenig Stille!», ist wie ein Bauer, der sagt: «Ich lasse noch schnell die Äpfel reifen!» Beides ist unmöglich.
Die Stille gehört wohl zu den hilfreichsten nicht chemischen Heilmitteln, die man gegen Stress, Überempfindlichkeit und Nervosität anwenden kann. Aber die Stille ist ein zerbrechliches Glück. Bereits ein einziges Wort kann sie durchbrechen, und ein Schrei sie zerreissen. Die Stille ist anfällig auf jegliche Arten von Geräuschen. Im 19. Jahrhundert war es darum zum Beispiel in vielen deutschen Städten für Frauen verboten, nach 22 Uhr mit Stöckelschuhen durch die Strassen zu gehen, weil dadurch die Nachtruhe hätte gestört werden können. Heute ist sogar das «stille Örtchen» kein Ort der Stille mehr. Handys klingeln überall. Und die Statistik sagt, dass heute jede fünfte Frau in der westlichen Welt unter dem Lärm leide und nachts schlecht schlafe. Laut Statistik soll auch jeder vierte Mann zwischen 14 und 25 Jahren bereits einen Gehörschaden haben. Diese Zahlen zeigen, dass regelmässige Aufenthalte in der Stille kein Luxus sind.
Doch wie und wo kann man in unserer hektischen und lärmigen Zeit Stille finden? Stille findet man eigentlich fast überall, wenn man sie wirklich sucht. Die tiefste Stille findet man aber vor allem in der Natur: in den Wäldern, in den Bergen, an den einsamen Ufern der Flüsse und Seen. Und wenn man vor dem Eintauchen in die Stille auch noch ein paar Kilometer zu Fuss durch die Natur gewandert ist, kann die Stille erst recht heilsam wirken, weil die körperliche Aktivität das Gehirn auffrischt und die Seele stärkt. Wer zu wenig Zeit hat, um in die Natur zu gehen, findet natürlich auch in den Kirchen in den Städten und Dörfern Oasen der Stille.
Alle stillen Orte – in den Städten, Dörfern und in der Natur – sind immer auch Orte der Begegnung; Orte, an denen man all dem begegnen kann, was man im Alltag vielleicht übersehen oder verpasst hat; Orte, an denen man erfülltes Leben finden kann.
In der Stille sich selbst begegnen
Auf einem Betriebsausflug begegneten die Teilnehmenden einmal einem Mönch, der in der Einsamkeit lebte. Sie fragten ihn: «Was für einen Sinn siehst du in der Stille?»
Der Mönch war gerade damit beschäftigt, Wasser aus einer tiefen Zisterne zu schöpfen. Er antwortete lächelnd seinen Besuchern: «Schaut in die Zisterne hinab! Was seht ihr da?»
Alle blickten in die Tiefe der Zisterne und sagten: «Wir sehen nichts ausser Wasser.» Nach einer kurzen Weile forderte der Mönch sie erneut auf: «Schaut noch einmal in die Zisterne! Was seht ihr jetzt?»
Die Leute blickten wieder hinunter und sagten erstaunt: «Jetzt sehen wir unsere Spiegelbilder!»
Der Mönch sprach: «Schaut, als ich vorher Wasser schöpfte, war das Wasser unruhig. Jetzt ist das Wasser ruhig. Und das ist die Erfahrung der Stille. In der Stille sieht man sich selbst!»
Wenn um einen herum alles schweigt und still ist, kann man innerlich zur Ruhe kommen und sich selbst sehen. Aber nicht alle Menschen ertragen diese Stille und diese innere Ruhe gleich gut. Denn in der Stille begegnet man nicht nur sich selbst, sondern – wenn man dazu bereit ist – auch der Wahrheit über sich selbst. Und das ist nicht immer gleich lustig. Manchmal kann es sogar recht unangenehm sein. Dann zum Beispiel, wenn man plötzlich merkt, dass man sich selbst offenbar zu wichtig nimmt und man gar nicht derjenige oder diejenige ist, die man gerne sein möchte oder den man so gerne gespielt hat.
Vielleicht entdeckt man in der Stille aber auch alles das, was einem wirklich fehlt und welche Wünsche und Träume im Leben noch unerfüllt sind. Vielleicht erkennt man aber gerade das Gegenteil: Dass es einem ja gar nicht so schlecht geht, wie man befürchtet hat. Und dann macht eine innere Stimme Mut, das Leben in Zukunft noch bewusster und fröhlicher zu gestalten. Zum Beispiel: Nicht zu viel vor sich her zu schieben oder auf andere abzuschieben oder noch grosszügiger, verständnisvoller und versöhnlicher miteinander umzugehen.
Vielleicht geht einem in der Stille aber auch ganz einfach das Licht auf, dass es erfülltes Leben gibt, trotz vieler unerfüllter Wünsche (Bonhoeffer). So oder so, die Stille lässt einen meistens zufrieden und beglückt in den Alltag zurückkehren.
In der Stille den Mitmenschen und der Mitwelt begegnen
Wer die Stille ertragen kann, ist niemals allein (Unbekannt). In der Stille sieht man nicht nur sich selbst, sondern in Gedanken kann man auch den Menschen begegnen, denen man im Alltag nahe ist. In aller Ruhe kann man in der Stille ungestört darüber nachdenken, welche Beziehungen stimmen, welche Beziehungen einem wichtig sind und welche man genauer beleuchten sollte. Und so wie man in der Stille mit sich selbst ins Reine kommen kann, kann man sich in der Stille auch Gedanken machen, wie man den anderen Menschen in Zukunft begegnen möchte. Gute Gedanken sind ja sehr oft das Fundament eines neuen Wegs in die Zukunft.
In der Stille Gott begegnen
Wenige Monate vor seiner Hinrichtung hat der deutsche Pfarrer Dietrich Bonhoeffer in der Einsamkeit einer Gefängniszelle der Nazis die Worte geschrieben, die heute eigentlich in jeder Bibel stehen sollten:
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Wenn wir in der Stille von nichts Äusserem abgelenkt werden und um uns herum nichts los ist, dann ist es möglich, dass auch wir das erfahren dürfen, was Dietrich Bonhoeffer in seiner Zelle und in seiner tiefsten Not erfahren durfte: Dass Gott bei uns ist – komme, was auch kommen mag. Diese Erfahrung durften sogar schon Menschen machen, die von sich sagten, sie seien nicht religiös.
Die schwierigen Alltagserfahrungen, das eigene schwere Schicksal, die Ungerechtigkeiten, das Elend, die Armut und all die Kriege in der Welt können einen leicht zweifeln lassen an der Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Aber die Stille ist so etwas wie das Audienzzimmer Gottes, wie das Sprechzimmer Gottes. Da darf und kann man alle Zweifel und Fragen laut aussprechen, ohne in eine nutzlose Diskussion über den Nutzen oder die Fragwürdigkeit des Glaubens hineingezogen zu werden. Und vielleicht ist es in der Stille sogar möglich, Gott für einmal ganz anders zu begegnen und trotz allem seiner Liebe zu vertrauen.
Auch Jesus lebte aus der Stille und dem Gebet. Zum Beten ging er zum Beispiel oft auf einen Berg (Lukas 6, 12). Ohne die Stille und das Gebet hätte Jesus wohl den Willen Gottes nicht bis hin zum Kreuz erfüllen können.
Allen Christen und Christinnen, die ihre Frömmigkeit gerne lautstark auf der Zunge tragen, und allen, die nicht öffentlich über ihren Glauben reden können oder wollen, gibt Jesus den Rat: Wenn du beten willst, dann geh ins stille Kämmerlein, schliess die Tür zu und bete zu Gott, der im Verborgenen ist. Gott, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen. Matthäus 6, 6.
In der Stille der Lebensfreude begegnen
Lebensfreude erfüllt einen nicht nur dann, wenn die Beziehungen, die Familie, das Konto und die Balance zwischen Arbeit und Freizeit stimmen. Auch die Stille kann einen mit Lebensfreude erfüllen. In der Stille kann man nämlich all das, was einem die Freude am Leben verdirbt oder die Freude am Leben dämpfen möchte, beim Namen nennen. All die ärgerlichen, ängstlichen, sorgenvollen oder schmerzenden Gedanken darf man laut aussprechen. Auch die Schuldgefühle, die Eifersucht, den Neid, die Erwartungen oder die Abhängigkeit von anderen Menschen. Die Stille hört zu und erzählt es nicht weiter. Denn die Stille ist auch eine gute Seelsorgerin.
Im Alltag dringen negative Gedanken, die unser Leben mitbestimmen möchten, immer wieder ungefragt in unser Hirn und in unser Denken ein. Und wenn wir nicht achtsam genug sind, gelingt es ihnen auch immer wieder, uns zum Grübeln zu verleiten, Schwarzmalerei zu betreiben oder uns kleiner zu machen, als wir sind. Und so wie das unerwünschte Unkraut die Freude an der Gartenarbeit trüben kann, so können auch diese unerwünschten negativen Gedanken die Freude am Leben verderben. Aber die negativen Gedanken scheuen nichts so sehr wie das achtsame Leben und die positiven Gedanken. Und der ideale Ort, wo man sich – ohne abgelenkt zu werden – in Achtsamkeit üben und positive Gedanken machen und sammeln kann, ist die Stille in der Natur. Da kann man richtig und tief durchatmen. Mit jedem bewussten Atemzug kann man spüren, wie der erfrischende Sauerstoff die Achtsamkeit und die Lebensfreude stärkt und die negativen Gedanken verdrängt.
Die Stille kann Wunder wirken und auf manches im Leben eine Antwort geben, und sie kann wertvolle Begegnungen möglich machen. Die Heilkraft der Stille kann sogar helfen, dass am Abend vor dem Einschlafen jeweils nicht das Grübeln und die Sorgen das letzte Wort haben, sondern die Lebensfreude und die Dankbarkeit.
ROBERT SCHNEITER