Wegen einer Stimme: Gsteig sagt Nein
29.08.2023 GsteigViermal ausgezählt, viermal war da diese eine überzählige Nein-Stimme: Die Gemeindeversammlung Gsteig hat die Vorlage für die finanzielle Beteiligung am integrierten Versorgungsnetz abgelehnt und ist damit die einzige Gemeinde in der Region. Bevor aber das Resultat ...
Viermal ausgezählt, viermal war da diese eine überzählige Nein-Stimme: Die Gemeindeversammlung Gsteig hat die Vorlage für die finanzielle Beteiligung am integrierten Versorgungsnetz abgelehnt und ist damit die einzige Gemeinde in der Region. Bevor aber das Resultat klar war, gab es einiges zu diskutieren.
IN KÜRZE
• Alle sieben Gemeinden des Obersimmentals und Saanenlands haben am Freitagabend über die finanzielle Beteiligung am integrierten Versorgungsmodell Gesundheitsnetz Simme Saane abgestimmt.
• Sechs Gemeinden haben die Vorlage angenommen, Gsteig hat sie abgelehnt: 98 Nein-Stimmen standen 97 Ja-Stimmen gegenüber.
• In einer gemeinsamen Stellungnahme liess der Kanton Bern, die Gesundheit Simme Saane AG und die Spital STS AG am Freitagabend verlauten, nun mit allen Beteiligten ein neues Versorgungskonzept zu erarbeiten.
• Es folgte eine Medienmitteilung der Bergregion Obersimmental-Saanenland, dass die Vorsitzenden der sechs Befürworter-Gemeinden einen neuen Weg suchen möchten, um das integrierte Versorgungsmodell Simme Saane mit einem Akutspital trotzdem zu realisieren – dies aufgrund des «ausserordentlichen Solidaritätsbekenntnisses». Innert Wochenfrist wollen sie über das weitere Vorgehen informieren.
JOCELYNE PAGE
Nach viermaligem Auszählen war es Realität: Gsteig sagt als einzige der sieben Gemeinden Nein. 98 Stimmbürger:innen haben die Vorlage abgelehnt, 97 waren dafür, hinzu kamen vier leere Zettel. Vor der Abstimmung wussten auch alle in der Mehrzweckhalle Gsteig, dass die anderen sechs Gemeinden mit einem grossen Mehr der Vorlage zugestimmt hatten.
Am Ende hat eine einzige Stimme entschieden. Diesem Resultat ging eine belebte Diskussion voran, bei der die zwei Lager klar ersichtlich waren. Nachfolgend eine Auswahl der Wortmeldungen – zuerst die Sicht der Befürworter:innen, gefolgt von der Sicht der Gegner:innen.
Furcht vor Rattenschwanz an Konsequenzen
Die Befürworter befürchteten, dass bei einer Ablehnung der Vorlage ein Rattenschwanz an Konsequenzen folgen würde. Kein Spital, keine Notfallabteilung, keine Geburten im Maternité Alpine, verlorene Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Abwanderung junger Familien und junger Fachkräfte, Verschärfung des Fachkräftemangels, weitere Überlastung der Hausärzteschaft, lange Fahrten nach Thun und weiter. «Wer übernimmt uns die Zug- und Fahrkosten, bis wir uns behandeln lassen können?», fragte eine Stimmbürgerin. Ein Votant brachte die geografische Lage von Gsteig ins Spiel. «Welches Signal senden wir nach Bern, wenn wir als hinterste Gemeinde Nein stimmen?» Die Regierung werde wohl denken, dass es demnach gar kein Spital brauche, wenn die Bevölkerung mit der längsten Anfahrtszeit nach Thun die Vorlage ablehne.
Bürger:innen wollen nicht nur an Geld denken
Mehrere störten sich daran, dass der Gsteiger Gemeinderat und diverse Votanten die finanziellen Beiträge immer wieder als Grund anführten, der Vorlage nicht zuzustimmen. «Finanziell kann es kein Problem für unsere Gemeinde sein, wenn man die höheren Beträge betrachtet, die wir beispielsweise zugunsten von der Bergbahnen Destination Gstaad AG, Gstaad Marketing und Gstaad Saanenland Tourismus gesprochen haben», argumentierte ein Stimmbürger. Bei einem Ja hätte Gsteig einen jährlich wiederkehrenden Beitrag von 51’701 Franken ab 2025 (65 Franken pro Kopf) an das Gesundheitsnetz Simme Saane ausbezahlt, von 2024 bis 2028 wäre ein Aufbau- und Entwicklungskredit von 11’489 Franken hinzugekommen. Eine Votantin stellte die Finanzen auch in Relation: «Eines dürfen wir nicht vergessen. Es geht hier nicht um den Kauf einer Computeranlage oder einem Stück Land. Hier geht es um Menschenleben.»
Historisch die Rollen wechseln
Der ehemalige Gemeinde- und Gemeinderatspräsident Martin Marti blickte zurück auf seine Amtszeit, als der Fortbestand des Spitals Zweisimmen schon einmal auf der Kippe stand. «Es war die Gemeinde Gsteig, die massgeblich dafür sorgte, dass wir weiterhin ein Spital in der Region haben.» Nun bestehe die Möglichkeit, dass diese Gemeinde das Projekt zum Scheitern bringen könne. «Dass nicht jedes Detail geklärt ist, ist klar. Es braucht nun eine Aufbau- und Entwicklungsphase, denn ein Fertigprodukt können wir nicht kaufen. Es geht vielmehr darum, zu signalisieren, dass wir eine gute Gesundheitsversorgung in der Region brauchen.»
Maulkörbe und Misstrauen
Ein weiterer Stimmbürger sprach das Misstrauen des Gsteiger Gemeinderats gegenüber der Gesundheit Simme Saane AG (GSS) an, die bei einem geschlossenen Ja aller Gemeinden unter anderem das Spital führen würde. Er habe mit einem Verwaltungsratsmitglied der GSS gesprochen, der an der Gsteiger Gemeindeversammlung teilnehmen wollte, aber keine Erlaubnis erhielt. Im Vorfeld seines Votums sagte Gemeinde- und Gemeinderatspräsident Markus Willen zur Versammlung, die GSS habe ihnen und mehreren Involvierten einen Maulkorb verpasst, doch der Gemeinderat habe sich nicht verbieten lassen wollen, seine Meinung kundzutun. «Ihr sprecht davon, dass die GSS Unwahrheiten verbreitet und euch einen Maulkorb verpasst hat. Wieso habt ihr diesen Verwaltungsrat nun nicht kommen lassen, wenn ihr gerne offen sprechen möchtet?», fragte der Votant. «Derjenige, der gekommen wäre, wäre nicht in der Lage gewesen, unsere Fragen zu beantworten, denn er war nie an einer der Sitzungen dabei», erklärte Willen. Um welche Person es sich handelte, blieb ungeklärt.
Businesspläne überzeugten nicht
Der Gemeinderat machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass er der Gesundheit Simme Saane AG nicht zutraut, ein Spital in Zweisimmen zu führen. Er habe den Businessplan vertieft studiert und mit der Geschäftsleitung im Spital Zweisimmen und Alterswohnen STS AG gesprochen und so auch herausgefunden, dass die Spitalleitung nicht hinter dem Vorhaben stünde, sagte Willen. Er und seine Ratskollegen hätten mehrmals Fragen an die GSS gestellt, aber die Antworten vermochten die Zweifel an der Realisierbarkeit des Projekts nicht auszuräumen. Zudem sei die Einordnung des Projekts schwierig, denn «es wurde nie eine unabhängige Studie durchgeführt, eine solche existiert nicht», meinte Willen. Eine Stimmbürgerin, die beim Spital Zweisimmen arbeitet, erzählte ebenfalls von unbeantworteten Fragen, dies beunruhige sie. Zudem würden in den Plänen für den Neubau des Spitals wesentliche Räume fehlen, wie beispielsweise die Dialyse.
Die Rolle der Gemeinden hinterfragt
Bei einem Ja für das integrierte Versorgungsmodell würden alle Gemeinden zu Arbeitgebern und hätten auf einen Schlag 250 Leute auf der Lohnliste, so Willen. «Seid ihr euch der Verantwortung bewusst?», fragte er in die Menge. Sein Gemeinderatskollege Simon Graa untermauerte das Argument mit den zahlreichen Altersheimen, die von Saanern Gemeinden zuerst aufgebaut wurden, aber danach an Stiftungen oder Unternehmen weiterverkauft wurden. «Gemeinden können anscheinend Altersheime nicht erfolgreich führen. Nun trauen wir uns aber zu, ein Spital zu betreiben? Dies ist viel komplexer.» Um bei den Altersheimen zu bleiben: Die Aufspaltung und Übernahme der Standorte der Alterswohnen STS AG im Obersimmental und Saanenland unterstützten der Gemeinderat und weitere Votanten ebenfalls nicht. «Das Unternehmen steht heute finanziell gut da, eine Aufspaltung macht keinen Sinn. Es kann nicht sein, dass wir auf dem Rücken der Senioren unsere Pläne durchführen wollen», so ein Stimmbürger.
Braucht es denn ein Spital?
Simon Graa orientierte die Versammlung auch über die Zahlen, die der Gemeinderat von der Spitalführung erhalten hatte: Im vergangenen Jahr seien 5,5 Prozent der Patientinnen und Patienten stationär behandelt worden, der Rest ambulant. Auch der Regierungsrat spreche von einer veränderten Gesundheitsversorgung und der Zunahme des Trends, dass viel mehr ambulant behandelt werde, sagte Graa. Man müsse deshalb darüber diskutieren, ob ein ambulantes Gesundheitszentrum vielleicht die Nachfrage und das Bedürfnis der Gesellschaft eher decke als ein Spital, fügte Willen an. «Die Zahlen zeigen auch, dass der Notfall viel mehr Patienten hatte. Aber die Ursache liegt beim Hausärztemangel.» Eine Votantin, die beim Spital arbeitet, war der gleichen Meinung: «Was wir brauchen, ist eine Notfallaufnahme, eine Rettung und Spezialsprechstunden.»
Ärger über den Kanton
Am Ende gab es mehrere Unmutsäusserungen über die Art und Weise, wie der Kanton die Region behandle. Die Gegner:innen gaben dem Gemeinderat recht, dass die medizinische Grundversorgung inklusive Spitalversorgung Sache des Kantons sei, nicht der Gemeinden. «Wir, die am weitesten von Thun entfernt sind, müssen für unsere eigenen Spitalversorgung bezahlen, aber den Leuten im Unterland wird alles bezahlt? Das stört mich», sagte eine Stimmbürgerin. Eine weitere Votantin unterstützte ihre Meinung: «Ich finde es eine Frechheit, dass der Kanton uns unterstellt, dass wir bei einem Nein signalisieren, kein Spital mehr zu wollen.»
Willen: «Dieses eine Projekt nicht zum Fliegen gebracht»
Auf die Frage der Journalisten im Anschluss an die Gemeindeversammlung, ob er nicht das Gefühl habe, nun vor einem Scherbenhaufen zu stehen, verneinte Markus Willen. «Es ist eine neue Ausgangslage. Die GSS wird weiterhin als Koordinationsstelle fungieren, dieses eine Projekt haben wir nun einfach nicht zum Fliegen gebracht.» Er sei allerdings vom Resultat überrascht, denn er sei vielmehr von einem 60-zu-40-Resultat für die Vorlage ausgegangen. Trotzdem: Die Stimmbeteiligung von über 30 Prozent habe ihm Freude bereitet, so auch die sachliche Diskussion im Vorfeld. «Ich verstehe, dass es einigen Angst gemacht hat, von den heutigen Strukturen loszulassen. Für uns ist aber die Spital STS AG die richtige Ansprechpartnerin, mit der der Kanton etwas erarbeiten muss, um die medizinische Grundversorgung mit einem Gesundheitszentrum zu sichern», so Willen.