Wenn Zeit und Kräfte brach liegen – die störrische Grösse des Sonntags
26.07.2024 KircheWie ist das bei Ihnen: Gibt es bestimmte Dinge, die Sie nur am Sonntag tun? Oder Dinge, die Sie sonntags ganz gewiss nicht tun?
Viele erinnern sich: In früheren Zeiten kannten wir Kleider, Essen oder ähnliches nur für Sonn- oder Feiertage; Montag bis Freitag oder Samstag ...
Wie ist das bei Ihnen: Gibt es bestimmte Dinge, die Sie nur am Sonntag tun? Oder Dinge, die Sie sonntags ganz gewiss nicht tun?
Viele erinnern sich: In früheren Zeiten kannten wir Kleider, Essen oder ähnliches nur für Sonn- oder Feiertage; Montag bis Freitag oder Samstag galten als Werktage mit eigenen Gesetzen und Bräuchen, Sonntag dagegen war der Festtag: mit Zopf und Braten und den neuen Hosen.
Mir gefällt eine solche Praxis. Mir gefällt, wenn das Leben in nicht immer gleichen Bahnen verläuft, sondern von Wechsel und Unterbrechung geprägt ist. Ich finde: Wenn sich unsere Tage in nichts voneinander unterscheiden, dann wird alles grau in grau. Wir bedürfen der Unterbrechung. Reich wird unser Leben dann, wenn wir Wechsel pflegen, Zeiten aussparen und Atempausen einlegen. Lebendig bleiben wir, wenn wir uns immer wieder dem Zwang des Funktionierens entziehen.
Sich dem Reich der Zwänge verweigern
Gewiss, die verordnete Sonntagsstatt und -ruhe in früheren Zeiten konnte beengen und hemmen, sie hatte etwas von einem Diktat, doch sie hielt das Bewusstsein wach, dass wir der Rhythmen, der Wechsel und der Musse bedürfen. So gesehen hat jene alte Zeit, da der Sonntag umfassend beachtet wurde, eine störrische Grösse. Die Zeit und die Kräfte von Menschen und Tieren lagen brach, sie brachten keinen Profit. Für einen Tag verweigerten sich die Menschen dem Reich der Zwänge.
Heute ist das anders. Wir leben in atemlosen Zeiten und gönnen uns kaum mehr Pausen. Wir können jederzeit einkaufen und sind immerzu beschäftigt. Die Tage gleichen sich. Wir rennen unseren kleinen Wünschen hinterher und vergessen die grossen. Eine «24 Stunden und 7 Tage»-Gesellschaft führt zu einem Diktat der Unrast. Es fällt schwer, sich zu entziehen und es ist nicht leicht, an Unterbrechungen und Rhythmen festzuhalten.
Nur auf die eigene Stärke bauen
Ich finde: Diese Art zu leben schadet uns. Denn sie bedeutet: Ich definiere mich durch mein Tun. Wer sich der Musse, dem Wechsel und der Rast verweigert und unentwegt tätig ist, reduziert sich selbst auf das, was er zu leisten imstande ist. Eine Gemeinschaft von Menschen, welche die Tradition des Sonntags aufgibt, ist eine Gemeinschaft von Machern. Kann man in einer solchen Kultur auf etwas anderes bauen als auf die eigene Stärke? Kann man sich hergeben, loslassen, empfangen? Und: Was geschieht, wenn meine Kräfte schwinden und ich nicht mehr der Macher zu sein vermag?
Das Sabbatgebot des Alten Testaments («Denke an den Sabbattag und halte ihn heilig») bewahrt uns vor einer solchen Art zu leben. Die Feier des Sonntags hält die Erinnerung wach: Wir Menschen sind nicht Knechte. Kein Diktat und kein Zwang sollen uns beherrschen. Denn wir sind die Kinder eines Königs.
Ein Ruhetag für alle
Im Alten Testament heisst es: «In sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht, dann aber ruhte er am siebten Tag.» (Ex 20, 11) Mit dieser Bestimmung ist zunächst keine bestimmte Praxis, weder Rituale noch Verbote, verbunden. Wichtig ist, den gängigen Alltag und den gewohnten Rhythmus zu unterbrechen. Bedeutsam ist auch: Das Sabbatgebot gilt nicht nur für die reiche Elite, sondern für alle – für Knechte und Mägde, für die Gäste und das Vieh. In der Kultur der Römer ist das anders: Die Unterschicht arbeitet ohne Pause und ohne Ruhetag, die Oberschicht dagegen gibt sich unaufhörlich und gänzlich der Musse hin. Nicht so im alten Israel: Der Alltag aller kennt Rhythmus und Unterbrechung.
Im Alten Testament findet sich eine zweite Fassung der zehn Gebote. Die Begründung für das Sabbatgebot hat gemäss dieser Lesart nicht mit dem Schöpfungshandeln Gottes zu tun, sondern mit der Befreiung aus Unterdrückung und Sklaverei; im fünften Buch Mose (5, 15) heisst es: «Denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten.» Also: Nie mehr soll Arbeit allein das Leben bestimmen, fortan sollen Freiheit, Musse und Kontemplation zu ihm gehören.
Die junge christliche Gemeinde knüpft an die Tradition des jüdischen Sabbats an und verbindet ihn mit dem Tag der Auferstehung Jesu Christi. Seither feiern wir den Sonntag als den Ruhe- und Feiertag. Für die Juden ist der Sabbat der letzte Tag der Woche, der Tag darauf, der Sonntag, demzufolge der erste. Für uns ist also nicht der Montag, sondern der Sonntag der erste Tag der Woche. Ich halte diese Bestimmung für bedeutsam: Wir beginnen die Woche nicht mit Arbeit, sondern mit Ruhe; am Anfang steht nicht tätig sein, sondern empfangen.
Keine Angst vor der Musse!
Aber: Den Protestanten fallen Musse, Empfangen und der Verzicht auf Tun und Tätigsein nicht leicht. Wir glauben und bekennen zwar, dass wir aus Gnade alleine gerettet sind, aber wir leben nicht so. In besonderer Weise wir Oberländer sehen uns genötigt, immerzu vor uns hinzuwerkeln. Und das ist ja auch nicht falsch. Erstens gibt es immer viel zu tun und zweitens gehört Arbeit grundlegend zu unserem Leben. Die Paradieserzählung des Alten Testamentes hat nichts gemein mit der Vorstellung vom Schlaraffenland; im Garten Eden sind Mann und Frau ganz selbstverständlich tätig und bebauen die Erde. Das freilich hindert sie nicht daran, am siebten Tag die Gemeinschaft mit Gott, mit einander und der ganzen Schöpfung zu pflegen und zu vertiefen.
Ich finde: Zu einem guten Arbeiter gehört, dass er aufhören kann und keine Angst vor der Ruhe hat. Es gibt eine Betriebsamkeit, die nur getarnte Faulheit ist. Ich misstraue dem Fleiss derer, die ewig betonen, sie hätten keine Zeit für Musik, für ein Buch, für ein Gebet, den Gottesdienst, einen Spaziergang. All das sind Dinge, die kein Ziel und keinen Zweck haben. Und gerade darum müssen wir sie erhalten oder retten! Welche Schönheit liegt darin, dem knechtischen Leben mit der Feier des Sonntags sein endgültiges Recht zu bestreiten! Welche Kühnheit liegt darin, sich Lieder und Gebete zu erlauben, andere Kleider anzuziehen, besser zu essen und zu trinken! Der Sonntag hat eine störrische Grösse. Wer ihn feiert, entzieht sich dem Diktat des Funktionierens. Die Zeit und die Kräfte liegen brach. Für einen Tag verweigern wir uns dem Reich der Zwänge.
Der Sonntag verbindet
Den Sonntag zu feiern bedeutet freilich nicht, sich blindem Freizeit- oder Konsumaktivismus hinzugeben. Denn in einem solchen Fall bin ich ähnlichen Zwängen unterworfen wie an den anderen Tagen der Woche. Der Sonntag ist ausgesparte Zeit, ein zweckfreier Raum; indem ich meinen Alltag unterbreche entziehe ich mich am Sonntag den gängigen Ansprüchen und Zugriffen.
Was das im Einzelnen und konkret bedeutet, muss jede und jeder für sich selbst entscheiden. Gewiss ist: Es geht um Unterbrechen und Rast; es geht darum, Beziehungen und Austausch zu pflegen: mit sich selber, mit Gott, mit den Menschen um uns herum.
Dieses Recht auf einen geordneten und regelmässigen Ruhetag gilt für alle Menschen. Deshalb setzen sich die Kirchen seit jeher für den Schutz des Sonntags ein. Ich finde, dieser Tag ist nicht nur für den einzelnen bedeutsam, sondern wichtig auch für unsere Kultur und Gesellschaft. Das kollektive Unterbrechen des Gewohnten und Gängigen verbindet Menschen zur Gemeinschaft, es ermöglicht ehrenamtliches Engagement, schöpferisches Tun und zweckfreie Begegnung. Der Sonntag führt die Menschen zusammen.
BRUNO BADER