ZEDER – die Plakatausstellung ist eröffnet

  30.05.2023 Gesellschaft

Am letzten Donnerstag fand in Gstaad der Eröffnungsanlass von ZEDER – Zeichen der Erinnerung statt. Neben treffenden Worten des Gemeindepräsidenten und besinnlichen Gedanken aus christlicher Sicht erzählte Manuel Raaflaub eine auf den ersten Blick etwas irritierend schöne Geschichte eines Verdingkindes aus dem Saanenland.

KEREM S. MAURER
Der Kanton Bern erinnert im Rahmen der Gedenkanlässe ZEDER – Zeichen der Erinnerung an die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1980 (wir haben berichtet). Laut einer Mitteilung des Kantons beteiligen sich rund 166 (von insgesamt 337) politischen Berner Gemeinden an den Gedenkanlässen. Mit dabei sind auch die drei Gemeinden des Saanenlandes sowie die römisch-katholische Kirche St. Joseph Gstaad, die reformierte Kirchgemeinde Saanen-Gsteig sowie die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Lauenen. Mit knapp 50 Besuchenden war das Interesse der Bevölkerung am Eröffnungsanlass vom letzten Donnerstag im Kirchgemeindehaus Gstaad eher mässig.

Unvorstellbare Zustände
«Ich danke allen, die sich die Zeit nehmen, um an die Kinder und Erwachsenen zu denken, die nicht eine so schöne Kindheit hatten wie die meisten von uns», sagte Saanens Gemeindepräsident Toni von Grünigen einleitend. Viele der heute Anwesenden könnten sich kaum noch vorstellen, wie es den Verdingkindern damals ergangen war. Einsamkeit, Verlorenheit und Entwurzelung hätten so manches Leben schwieriger gemacht. Und das Gefühl, nichts wert zu sein und zu erfahren, dass sich niemand um einen kümmert, müsse fast unerträglich gewesen zu sein. «Die Armut, die hier bei uns vor hundert und mehr Jahren herrschte, können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Diese Armut hat Personen, Familien und auch unsere Gemeinde betroffen», so von Grünigen. Aus dieser Armut heraus hätten die Behörden und die Verantwortlichen Entscheidungen getroffen, die man heute nicht mehr nachvollziehen könne. «Diese Kinder und Familien, die deswegen schwere Zeiten erleben mussten, tun mir leid», beteuerte der Gemeindepräsident. Dieses Leid könne nicht rückgängig gemacht werden, aber man könne ein Zeichen setzen. Man wisse nicht, wie man in hundert Jahren auf Entscheidungen zurückblicke, welche die Verantwortlichen heute träfen, aber man probiere, aus der Vergangenheit zu lernen. Dazu gehöre, dass man als Einzelperson, als Teil der Gesellschaft, aufmerksam sei und darauf achte, was rund herum geschehe. «Dass wir nicht wegschauen, sondern uns darum kümmern, wenn es jemandem nicht gut geht. Vielleicht können wir alle dazu beitragen, dass es weniger Leid gibt», so Saanens Gemeindepräsident.

«Wie konnte man so mit Kindern umgehen?»
Marianne Kellenberger, Pfarrerin der reformierten Kirchgemeinde Saanen-Gsteig, und Gaby Bachmann, Gemeindeleiterin der römisch-katholischen Gemeinde St. Joseph Gstaad, rückten das Leid der Verdingkinder, die verprügelt, missbraucht, entrechtet und zu unmenschlich langen, harten Arbeitstagen auf den Bauernhöfen gezwungen worden waren, in den Vordergrund. «Wie konnte man so mit Kindern umgehen?», fragte Marianne Kellenberger, und: «Wie wurden wahre Menschen zu Menschenware?» Schweigen sei manchmal der lauteste Schrei eines Kindes, meinte Gaby Bachmann und fragte: «Gott, wo warst du in jener Zeit, als die Kinder dieses Leid erdulden mussten?» Das Zwiegespräch der beiden endeten in einem Gebet, in dessen Verlauf Marianne Kellenberger sagte: «Wir sind tief betroffen und es tut uns leid.»

Nicht allen erging es gleich schlimm
In dieser Stimmung erschien die Geschichte eines Verdingbubes – die im Saanenland auch Loskinder genannt wurden, weil sie für eine bestimmte Zeit einem Bauernhof zugelost wurden – eher unwirklich. Emanuel Raaflaub erzählte die Geschichte von Eugen Aellen, der vor über hundert Jahren im Scheidbachhaus im Turbach gelebt hatte. Dieser Losbub hatte es im Verlauf seiner Verdingzeit nicht nur vergleichsweise angenehm, sondern er wurde von seinen Zieheltern sogar gefördert – was in jenen Zeiten sehr selten vorkam. Eugen soll sogar gesagt haben, er habe es im Scheidbachhaus schöner gehabt als bei seiner Mutter. Aellens Geschichte widerspiegelt nicht die Geschehnisse, für welche die Gedenkanlässe rund um das Berner Zeichen der Erinnerung stehen. Warum hat man für den Eröffnungsanlass eine Geschichte ausgewählt, die auf den ersten Blick so überhaupt nicht in den Rahmen passt?

Dazu nimmt Markus Iseli, Leiter der Arbeitsgruppe und Moderator des Eröffnungsanlasses, wie folgt Stellung: «Es war der organisierenden Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen aller sechs Trägerschaften wichtig, eine Geschichte mit Bezug zum Saanenland zu finden. Die internen Abklärungen – auf die öffentliche Suche über den «Anzeiger von Saanen» wurde verzichtet – führten uns zu Eugen Aellen. Seine Geschichte ist echt und gut dokumentiert, einen anderen Bericht erhielten wir nicht. Tatsächlich hatte Eugen Aellen bei der Zuteilung seiner Pflegeeltern Glück, aber der Tod seines Vaters, der Umzug ins Saanenland, die Zeit im Spittel bis zum Lostag und die Trennung von seiner eigenen Familie waren für ihn sicher nicht leicht. Und auch sein Alltag auf dem Bauernhof war lang und streng. Seine Geschichte zeigt auf, dass es nicht nur schlechte Beispiele gab. Natürlich überwogen die schrecklichen Vorkommnisse, die nie hätten passieren dürfen. Daran zu erinnern und unsere Anteilnahme allen Betroffenen gegenüber zu zeigen, war uns genauso wichtig und kam am Gedenkabend wiederholt zum Ausdruck.»

Plakatausstellung und Lesung eines ehemaligen Verdingten
Im Zuge des Eröffnungsanlasses wurde eine Plakatausstellung lanciert. Auf zwanzig Plakaten regen Bilder, Zitate und zukunftsgerichtete Fragen zu Gesprächen an. Und sie laden ein, sich mit einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren Vergangenheit unseres Landes auseinanderzusetzen (siehe Kasten).


DIE NÄCHSTEN ANLÄSSE IM KIRCHGEMEINDEHAUS GSTAAD

Plakatausstellung
Öffnungszeiten: Dienstag, 30. Mai bis Donnerstag, 8. Juni: täglich 10 bis 12 Uhr. Sowie Mittwoch, 31. Mai, Sonntag, 4. und Mittwoch, 7. Juni: 10 bis 15 Uhr.

Lesung mit Andreas Neugebauer, ehemaligem Verdingbub, inklusive Apéro und Buchverkauf. Donnerstag, 8. Juni, 20 Uhr.


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