«Country is a place in your heart»

  12.09.2017 Gstaad, Musik

Natürlich gibt es an der Country Night Gstaad Stars-and-Stripes-Fahnen, Stetson hats, Jeans, Stiefel, Line Dancers, Hamburger, Steaks, Spare Ribs und vieles mehr, was an die USA erinnert – das Ursprungsland der Country-Musik. All dies bildet aber nur die Kulisse für das Wesentliche der Country Night: die Musik.

THOMAS RAAFLAUB
Und diese Musik traf auch am letzten Wochenende die Menschen mitten ins Herz und löste dieses schwierig zu beschreibende Gefühl zwischen Heimund Fernweh, zwischen Begeisterung und Wehmut, zwischen Freiheitsdrang und Geborgenheit aus. Es ist diese Mischung, die immer wieder fasziniert und das Festivalzelt in Gstaad an zwei Tagen zu einem Ort macht, der ausserhalb von Raum und Zeit zu sein scheint – oder wie es Mo Pitney sagte: «Country is a place in your heart».

Damit dieser Platz in unseren Herzen Jahr für Jahr wieder entdeckt werden kann, dafür sorgen Marcel Bach mit seinem OK und den Helferinnen und Helfern seit 29 Jahren. Es sei nicht selbstverständlich, sagte er in seiner kurzen Ansprache, dass ein solcher Anlass in Ruhe und Frieden stattfinden könne, denn: «Wir leben in einer verrückten Zeit!» Die Arbeiten für die Jubiläumsausgabe 2018 seien aber schon weit fortgeschritten und auch danach gehe es weiter. Diese Zusage wurde vom Publikum begeistert beklatscht. Ein Applaus, den hoffentlich auch Suzanne Thoma – BKW-Direktorin und Vertreterin des Hauptsponsors – hörte, nachdem sie von Marcel Bach zum Dank für die Unterstützung einen Blumenstrauss bekommen hatte.

Mark Chesnutt kehrt zu den Wurzeln zurück
Dass Suzanne Thoma schon in den USA war, ist anzunehmen. Vielleicht kennt sie dieses Gefühl, mit offenem Autofenster über einen texanischen Highway zu fahren, den linken Arm lässig auf den Fensterrahmen gelegt und dazu «Too Cold at Home» von Mark Chesnutt zu hören. Selbstverständlich spielte der Texaner diesen Song in Gstaad, welcher ihm 1990 den Aufstieg zum internationalen Star ermöglicht hatte. Er begann sein Konzert mit gradlinigem Honky Tonk, verziert mit etwas Boogie-Woogie. Bei «Brother Jukebox» konnte das Publikum wie bei allen anderen seiner vielen Hits mitsingen: «Brother Jukebox, Sister Wine. Mother Freedom, Father Time …» Bisher hat er 14 Mal einen Nummer-1-Hit gelandet, 23 Mal eine Single unter den ersten zehn platziert, dazu hängen zehn Platin-Alben und fünf goldene bei ihm zu Hause an der Wand. Jetzt, schon im gesetzten Alter und mit Brille, überlege er sich, ob er wirklich noch Hits schreiben oder besser die Musik machen solle, die ihm gefalle. Eigentlich hat er sich mit dem Titel seines neusten Albums diese Frage schon beantwortet: «Tradition lives». Die Kostproben daraus überzeugten an der Country Night, sowohl der authentische Honky Tonk wie auch die melodiösen Balladen. Übrigens konnte sich das Publikum in Gstaad glücklich schätzen, den Texaner persönlich auf der Bühne zu sehen: Er war trotz der Stürme in den USA gerade noch rechtzeitig in der Schweiz eingetroffen.

Rhonda Vincent sagt «Bhüet di Gott»
Stürmisch, aber in einer ganz anderen Art, war der Auftritt von Rhonda Vincent. Die Darbietungen der «Queen of Bluegrass» und ihrer Gruppe riss das Publikum zu wahren Beifallsstürmen hin. Eine solche Ballung musikalischer Begabungen ist sogar für die Country Night aussergewöhnlich. Ob Fiddle, Dobro, Gitarre, Mandoline, Kontrabass oder Banjo – hier standen einzigartige Könner auf der Bühne, die ihre Instrumente virtuos, vollendet und vollkommen beherrschten. Scheinbar mühelos und mit sichtbarer Freude, locker und unbefangen boten die sieben Tonkünstler in bunter Folge Musik, die den gesamten Reichtum des Bluegrass zeigte: Da war Hillbilly zu hören, Blues, Gospel und Swing, Balladen und a-cappella-Stücke wechselten sich mit reinen Instrumentalstücken ab, die Mandoline und die Gitarren ersetzten mit ihren Chop-Schlägen das Schlagzeug. Als würde diese Vielfalt nicht genügen, spielten Rhonda Vincent und ihre Gruppe am Freitag und Samstag ein teilweise unterschiedliches Programm und bewiesen so ihre Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit: Der über Facebook eingegangene Musikwunsch eines Fans wurde erfüllt, und wenn sich die Gelegenheit bot, wurden die Instrumente gewechselt. Man war ja «en famille» und das im wahrsten Sinne des Wortes. Tochter Sally sang mit ihrer Mutter im Duett, Schwiegersohn eins fiedelte genial und Schwiegersohn zwei zeigte sich als Meister des Dobro. Familiär war auch die Stimmung im Festivalzelt, wo ein Szenenapplaus den anderen ablöste. Rhonda Vincent verstand es in einer einzigartigen Weise, die Band und das Publikum in ihr Konzert einzubeziehen und wünschte am Schluss, als der lange Applaus endlich abbrach, allen eine gute Heimkehr und verabschiedete sich mit einem «God bless you». Auf berndeutsch übersetzt heisst das «Bhüet di Gott». Ein Abschiedsgruss, der früher im Saanenland noch oft zu hören war.

Mo Pitneys Geschwister feiern Geburtstag
Vertraut auch Mo Pitney auf einen direkten Draht zum lieben Gott? Der erstaunliche Erfolg des jungen Talents könnte dieser Vermutung recht geben. Zum ersten Mal konnte sich der 24-Jährige mit seiner Stimme, seiner bemerkenswerten Bühnenpräsenz und seiner Musik in der Schweiz in Szene setzen. Eine Stimme mit einem Umfang, die vom tiefsten Keller bis unter das Dach reicht und die Mo Pitney nach Belieben modulieren kann. Musikalisch bot er eine breite Vielfalt von Stilen und Techniken – ehrlich, offen, gradlinig und immer der Musik und der Tradition verpflichtet. Er sang am Freitag zum Beispiel einen Gospel über das Leben von Jesus, solo und nur in Begleitung seiner Gitarre, ohne den Namen des Religionsstifters ein einziges Mal zu erwähnen. Wie bei Rhonda Vincent standen auch bei Mo Pitney Familienmitglieder auf der Bühne: Am Freitag feierten seine Schwester und sein Bruder Geburtstag – offensichtlich Zwillinge. Seine Mutter spazierte mit seiner Tochter durch das Festivalzelt. Seine Musik, sein Talent und das Können seiner Band hat den Weg in die Herzen des Publikums gefunden. Es applaudierte am Schluss seiner Darbietung stehend und zeigte so, dass es sich darauf freut, von Mo Pitney noch mehr zu hören.

Stephanie Urbina Jones kann fliessend «spanglish»
Von Stephanie Urbina Jones konnte das Publikum auch nicht genug bekommen. Verständlich, denn die Texanerin lebte ihre Musik genauso hingerissen und begeistert wie alle Künstlerinnen und Künstler der Country Night 2017. Die Mischung aus Country- und Latino-Musik, mal auf englisch, mal in akzentfreiem Spanisch, hat sicher auch Marcel Bach gefallen, der Lateinamerika gut kennt. Für ihn hat Stephanie Urbina Jones am Samstag einen mexikanischen Klassiker gesungen. Ihre Fröhlichkeit, ihre Ausgelassenheit und ihre Lebensfreude sprangen auf das Publikum über, das ihren Auftritt, was selten ist, am Beginn des Abends, mit einem stehenden Applaus würdigte.

Vielleicht wäre deshalb Enthusiasmus das Wort, das diese Country Night am besten zusammenfasst, auf deutsch Freude und Begeisterung. Gefühle, die eine Stimme aus dem Publikum so beschrieb: «So gut, wie schon lange nicht mehr.» Das ist ein Satz, der eine wirkliche Herausforderung für die Organisatoren der Country Night 2018 bedeutet.


HANSUELI REISER: «BEST COUNTRY IN THE WORLD»

Zur Country Night gehört auch das freudige Wiedersehen von Freunden und Bekannten … oder das Treffen von bisher Unbekannten. Hansueli Reiser gehört zu den Letzteren, dabei ist er eigentlich ein Einheimischer, der aber 1975 auf einer längeren Weltreise in Neuseeland eine neue Heimat fand. Mit seiner Frau kehrt er von Zeit zu Zeit in seine alte Heimat zurück. Um an der Country Night zu sein, hat er seine Ferien extra verlängert, denn hier könne er die beste Country-Musik der Welt hören, ist er überzeugt. Gibt es einen Country-Night-Fan, der noch weiter weg von Gstaad wohnt? Wohl kaum. Sicher ist, dass der Sohn eines Schriftsetzers auch in Neuseeland dem Arbeitgeber seines Vaters treu geblieben ist und regelmässig den «Anzeiger von Saanen» auf seinem Tablet liest.

 


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