Der Zynismus des amerikanischen Waffenfetischismus

  27.10.2017 Gesellschaft, Kolumne

Es ist ein grotesker Widerspruch: Die USA führen seit 2001 einen weltweiten, verlustreichen und teuren «Krieg gegen den Terror», ihr Präsident verhängt Einreiseverbote gegen Muslime und will Mauern gegen Migranten bauen – dies alles im Namen der Sicherheit der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger. Dabei ist diese Sicherheit in erster Linie von innen bedroht, aus der Mitte der Gesellschaft. In den zehn Jahren zwischen 2005 und 2015 sind in den USA 94 Menschen durch Terroranschläge ums Leben gekommen – und 301 797 durch Schusswaffen (Amokläufe, Massaker, Morde etc.). Allein 2017 haben gemäss «Bund» bis Anfang Oktober 273 Massenschiessereien stattgefunden, bei denen jeweils mehr als vier Personen getötet oder verletzt worden sind: 11 652 wurden durch Schusswaffen getötet, 23 512 verletzt, darunter 545 Kinder. Das Massaker von Las Vegas mit 59 Toten und über 500 Verletzten zu Beginn dieses Monats ist «bloss» die vorläufig grösste Massenschiesserei. Insgesamt sterben in den USA mehr Personen durch Schusswaffeneinsatz als durch Terror, Drogen und Kriege zusammen.

Die Konsequenzen? Das Waffenrecht wird weiter gelockert! Nach dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule in Connecticut vor fünf Jahren beschlossen mehr als zwei Dutzend Bundesstaaten neue Waffengesetze – und in fast allen Fällen erleichterten die Gesetze den Erwerb und den Besitz von Waffen. Gewalt, Verbrechen und Waffen sind aus keiner Gesellschaft vollständig zu verbannen. Aber der Zynismus, mit der die USA an ihrem Waffenfetischismus festhalten, ist beispiellos. Australien etwa brachte die Kraft auf, 1996 nach einem Massaker mit 35 Toten die Waffengesetze rasch und rigoros zu verschärfen. Die Opferzahlen sanken danach deutlich.

In den USA sind Waffen nicht nur äusserst leicht erhältlich, sie sind in der Öffentlichkeit auch vielerorts präsent. Rund drei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner laufen jeden Tag mit einer geladenen Schusswaffe in der Gegend herum, wie eine im Gesundheitsfachblatt «American Journal of Public Health» kürzlich veröffentlichte Studie zeigt. Waffenbesitz gilt in diesem Land als stärkster Ausdruck von Freiheit. Trotz Höchstleistungen in beinahe allen Bereichen menschlicher Existenz kultivieren die Vereinigten Staaten einen pervertierten Freiheitsbegriff, der tief in der Geschichte wurzelt. Zu leicht geht vergessen, dass die Besiedlung und die Eroberung Nordamerikas nicht vom Völkermord an den Ureinwohnern zu trennen ist. Zudem ging die Kolonisierung des Landes mit der Massenversklavung von Afrikanern einher, die es zwar auch andernorts gab, die jedoch in den USA eine besonders perverse und brutale Ausprägung fand, ja zu einer Art Staatsdoktrin wurde. Noch heute ist der Rassismus, vor allem gegenüber der schwarzen Bevölkerung, tief verwurzelt.

Kommt hinzu, dass sich der Freiheitsbegriff immer auch gegen die Zentralgewalt in Washington richtete: Man war und ist sich – nicht nur im «Wilden Westen» – gewohnt, die lokalen Angelegenheiten selbstständig zu regeln, nicht selten eben mit der Waffe. Das Gewaltmonopol des Staates, also der Verzicht der Angehörigen eines Gemeinwesens, tatsächliche oder vermeintliche Rechte und Ansprüche eigenhändig einzufordern, konnte in den USA gar nie richtig durchgesetzt werden. Das führte letztlich dazu, dass Gewalt zur DNA der amerikanischen Gesellschaft wurde.

Die starke Waffenlobby, die zumindest den republikanischen Teil des Parlaments vollständig unter Kontrolle hält und für Trumps Wahlkampf rund 30 Millionen Dollar aufgeworfen hat, ist so gesehen nicht die Ursache des amerikanischen Waffenfetischismus, sie ist bloss ein Symptom. Ein Symptom auch einer stark vereinzelten Gesellschaft, in der jeder jedem irgendwie misstraut. Der Schweizer Philosoph Georg Kohler spricht von einer «Grundnervosität» der US-Gesellschaft. Anlass dazu gibt es fürwahr angesichts des grassierenden Waffenwahnsinns. Nur bekämpft man diesen Wahnsinn nicht durch noch mehr Waffen.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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