Schutz oder Gefahr für das Erfolgsmodell Schweiz?

  06.11.2018 Saanenland, Gesellschaft, Politik

Am 25. November kommt die SVP-Selbstbestimmungsinitiative zur Abstimmung. Von der FDP wird die Initiative grossmehrheitlich abgelehnt. An der Podiumsdiskussion unter der Leitung von Sonja Hasler wurde die Initiative denn auch kontrovers diskutiert.

ANITA MOSER
Sind die Meinungen schon gemacht oder ist die Initiative zu komplex? Die von den bürgerlichen Parteien SVP und FDP organisierte Podiumsdiskussion zur SVP-Selbstbestimmungsinitiative vermochte zumindest die Bevölkerung im Saanenland nicht gross zu mobilisieren. Nur rund 60 Personen – darunter zahlreiche aus dem Simmental – nahmen im grossen Landhaussaal Platz.

Auf der Befürworterseite standen SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal und Matthias Brunner, Rechtsanwalt und Notar, Präsident des Kreisverbandes Obersimmental-Saanen. Für ein Nein am 25. November plädierten Claudine Esseiva, Betriebsökonomin, Vorstandsmitglied der FDP der Stadt Bern und Stadträtin von Bern, sowie Thomas Frei, Hotelier und FDP-Gemeinderat von Saanen.

Alle wollen Selbstbestimmung
«Die SVP sagt ‹Switzerland first›, die Verfassung steht über den internationalen Verträgen. Was gibt es dagegen zu sagen, dass wir selber bestimmen?», fragte Moderatorin Sonja Hasler. «Dass wir selber bestimmen können, ist mir auch sehr wichtig», betonte Claudine Esseiva. «Wir sind ein kleiner Staat im Vergleich zu anderen, wir sind aber abhängig von den anderen und müssen verlässlich sein.» Sie erwarte von der SVP eine klare Ansage. Die SVP tue sich schwer damit, dass ihre Initiativen, die sie vor dem Volk durchgebracht habe – beispielsweise die Masseneinwanderungsinitiative – für sie nicht wortgetreu genug umgesetzt worden seien. Deshalb komme sie nun mit der Selbstbestimmungsinitiative. Diese bezeichnete sie als «Juristen-Wischiwaschi». Sie fordere von der SVP mehr Ehrlichkeit und Mut. Es wäre ehrlicher, wenn das Stimmvolk beispielsweise zur Personenfreizügigkeit oder zur Menschenrechtskonvention ihre Meinung kundtun könnte. «Es stellt sich die Frage, wer nicht mehr verlässlich ist», konterte Erich von Siebenthal. «Wenn wir jetzt nicht ein Zeichen setzen und die Initiative annehmen, wissen wir keinen Tag, was vom Ausland auf uns zukommt.» Man müsse den Spiess umdrehen. «Wir sind auch jemand, wir wollen uns auch weiterentwickeln als Schweiz, und es kann nicht sein, dass wir uns der Welt gegenüber anpassen.

Die Welt kann sich auch uns gegenüber anpassen.» Solche Initiativen kämen zustande, weil das Volk unzufrieden sei, «weil es die Politik in den letzten 30 Jahren verpasst hat zu spüren, was das Volk will.»

Dass Initiativen nicht so umgesetzt werden, wie sich das die Initianten wünschen, sei sicher ein Hauptgrund für die jetzige Initiative, sagte Matthias Brunner. «In der Schweiz darf der Bürger entscheiden, bei wichtigen Vorlagen hat der Bürger und Bürgerin das letzte Wort und das ist auch richtig so. Und dann müssen die Volksentscheide auch richtig umgesetzt werden.» Das Bundesgericht habe 2012 eine Kehrtwendung vollzogen. «Bis 2012 war klar, die Verfassung geht Staatsverträgen vor, unbestritten, ohne Diskussion.»

Damals hat man eine Person nicht ausgeschafft, die gemäss Ausschaffungsinitiative hätte ausgeschafft werden sollen, erklärte Moderatorin Sonja Hasler.

«Ich will auch selbstbestimmt sein und das ist man, auch wenn man die Initiative ablehnt. Wird sie angenommen, gibt es ein Chaos», erläuterte Thomas Frei seinen Standpunkt. «Es müsste eine Selbstverständlichkeit sein, dass Schweizer Recht vor anderen Rechten steht», betonte Brunner. Die Initiative schaffe Klarheit. «Wenn wir eine Insel wären, ganz alleine auf der Erde und nicht mit allen anderen zu tun hätten und es auch nicht wollten, dann ist es so», entgegnete Esseiva. Für sie gebe es zwei Aspekte: «Die Wirtschaft ist vernetzt, wir sind keine Insel. Es ist auch ein grosser Erfolg der Schweiz, dass wir so gut vernetzt sind, in die ganze Welt, nicht nur in Europa.» Aber ebenso wichtig sei ihr die menschenrechtliche Sicht. Sie habe ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat. «Ich finde es gut, dass ich an den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg gelangen kann, wenn in unserem Land etwas nicht gut läuft», betonte sie und erwähnte die Entschädigung für Asbestopfer. Dank der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde die Verjährungsfrist für Asbestopfer verlängert, nachdem zuvor das Bundesgericht negativ entschieden hatte.

SVP übt Kritik an der FDP
Im Anschluss an die erste Runde kam das Publikum zu Wort. Es gebe kein anderes Land, in dem nicht das eigene Recht die oberste Gültigkeit habe, meinte ein anwesender SVP-Grossrat. Esseiva widersprach: In jedem Land, das bei der europäischen Menschenrechtskonvention mitmache, gelte Völkerrecht vor Landesrecht – so zum Beispiel auch in Deutschland. «Wir wären ein Unikum.» Die EU profitiere von der Schweiz mehr als umgekehrt, so der Votant weiter. Das Ausland habe das grössere Interesse an der Schweiz als umgekehrt – weil diese verlässlich sei. Thomas Frei: «Wir leben zufälligerweise alle miteinander auf der gleichen Welt. Es ist ein Zusammenleben, es braucht Verträge. Man muss aufeinander zugehen, miteinander diskutieren, das sei unsere Kultur. «Die Schweiz hält Verträge ein. Mit dieser Initiative geht man so weit, dass man Verträge kündigt und nicht mehr glaubwürdig ist.» Ein weiterer Votant sieht die Schweiz und die Demokratie in Gefahr. Selbstbestimmung und Äusserungsfreiheit seien für ihn die höchsten Menschenrechte. «Was macht die SVP falsch, wenn sie das Menschenrecht in die Verfassung schreiben will?» Mehrere Votanten kritisierten die FDP, weil sie ihre bürgerliche Schwesterpartei in dieser Sache nicht unterstützt. Die FDP sei heimatmüde geworden. Werde die Initiative angenommen, seien alles Verlierer, linke wie rechte. Dann bewegten wir uns Richtung EU und dahinter stehe die Taktik, die direkte Demokratie auszuschalten. Das sei absurd, niemand wolle die Demokratie abschaffen, betonte FDP-Mitglied Thomas Frei.

Für ihn stehe die Bundesverfassung über irgendwelchen Verträgen, meinte ein weiteres FDP-Mitglied. Dass man eine Initiative lancieren müsse, um das durchzusetzen, finde er bemühend. «Wir unterstützen die Schwesterpartei in ganz vielen Sache, kämpfen Schulter an Schulter», wehrte sich Esseiva. «Die FDP war einmal staatstragende Partei und das Staatswesen ist uns ganz wichtig.» Was sie hier höre, sei nicht ein Fremde-Richter-Bashing, sondern ein Schweizer-Richter-Bashing. Und das sei nicht gut. Die Schweiz habe mit der kommunalen, der kantonalen und der nationalen Ebene ein austariertes System. «All die Macht, die wir haben, ist schön verteilt. Es ist nicht die Mehrheit, die bei einer Volksabstimmung entscheiden kann, sondern man hat die politischen Systeme, welche Kompromisse aushandeln.» Ihr Herz blute, wenn ein FDP-Mitglied das System, die Wertigkeit des Gerichts in Frage stelle. «Die Gewaltentrennung ist ein riesiges Erfolgsmodell der Schweiz», so Esseiva.

Dass der Gegner die Demokratie untergrabe, weil er die Säule der Demokratie nicht respektiere, sei ein happiger Vorwurf, sagte Hasler an den Juristen Matthias Brunner gerichtet. Die Gewaltentrennung sei gut, so Brunner. Aber er habe Mühe, wenn das Parlament Volksentscheide nicht umsetze, das Bundesgericht das Recht nicht anwende und die Legislative seine Arbeit nicht mache, welche ihm das Volk auferlegt habe. «Dann stimmt die Gewaltendreiteiligkeit nicht. Die muss gewährt sein und zwar scharf.»

Für eine klare Ablehnung der Initiative plädierte ein junger Mann, auch er FDP-Mitglied. Die Schweiz sei ein guter Vertragspartner. «Wenn wir etwas bestimmen, das einem Vertrag widerspricht, muss man den neu verhandeln und will man ihn auflösen, soll das Volk das letzte Wort haben», argumentierte er. Scheitere die Neuverhandlung, werde der Vertrag bei Annahme der Initiative automatisch gekündigt. «Und dann haben wir weniger Selbstbestimmung. Ich will aber dann nach der Verhandlung darüber abstimmen, ob man den Vertrag kündigt oder nicht», betonte der junge Mann. Erich von Siebenthal sieht das anders: «Wir schaffen Klarheit für die Welt. Für jene, mit denen wir Verträge machen. Sonst werden wir Sklaven von Europa und von der weiteren Welt.»

Wie weiter mit den Verträgen?
Uneins waren sich Befürworter und Gegner, ob und welche Verträge bei Annahme der Initiative gekündigt werden müssten. «Es gibt einen Vertrag, den man neu verhandeln oder wenn nötig kündigen muss, und das ist die Personenfreizügigkeit», so von Siebenthal. «Zum Verhandeln braucht man auch immer ein Gegenüber. Ob wir das haben …?», fragte Frei. Und: «Wir sind viel unberechenbarer, wenn wir alles verhandeln müssen.» Es gehe um alle Verträge, von Fairfood-, Ausschaffungs- bis Personenfreizügigkeitsinitiative, sagte Esseiva. Alle müssten neu verhandelt oder gekündigt werden. Und das sei gefährlich. Brunner widersprach: «Man muss nicht alle Verträge nachverhandeln oder kündigen. Ich gehe davon aus, dass Bundesrat und Parlament Verträge abschliessen, welche der Verfassung entsprechen.» Esseiva konterte: «Es geht darum, dass wir die Verfassung ändern. Dadurch, dass wir ein System haben mit dem Initiativrecht – und das finde ich ja gut –, muss man das auch immer wieder anpassen. Es geht um neue Anpassungen, welche in Zukunft kommen werden und darum, dass wir uns dort ganz viele Freiheiten nehmen.» Thomas Frei: «Alle Verträge, die nicht einem Referendum unterstanden sind, sind nicht gültig. Jeder Vertrag, der dem Referendum unterstanden ist, bleibt gemäss Initiativtext gültig.» Die Menschrechtskonvention habe damals nicht dem Referendum unterstanden. Mit Ausnahme der Zusatzprotokolle, diese seien dem Referendum unterstanden und bleiben gültig.

Was bedeutet ein Ja, was ein Nein?
Was bedeutet ein Ja, was ein Nein am 25. November?, fragte Sonja Hasler in die Runde. Thomas Frei: «Es wird ‹strub› werden, man muss neue Verträge aushandeln, es gibt ein Chaos.» Matthias Brunner: «Das erste Recht des Bürgers, dass er selber abstimmen und selber bestimmen kann über das Land, wird verloren gehen. Es geht um die Demokratie. Und der Graben wird grösser. Die Politik ist relativ weit weg vom Bürger. Das löst auch das Desinteresse aus. Und die Elite, Professoren, Richter, Politiker, entscheiden in Bern und das Volk hat nicht mehr oder nicht mehr viel zu sagen. Das ist die Konsequenz.»

Für sie wäre es ein schwarzer Tag, sagte Claudine Esseiva. «Es wäre eine Bestätigung, dass wir nicht mehr zusammen reden können, dass wir es nicht mehr schaffen, anständig miteinander – hart – zu diskutieren, Kompromisse zu finden, dass nicht einfach eine Mehrheit sagen kann: ‹Ich habe recht, ich gewinne und der Rest muss mir Gewehr bei Fuss folgen.› Ich hätte grosse Sorge um unseren Wirtschaftsstandort. Wir sind eine Exportnation, es ist wichtig, dass wir mit diesen Ländern weiterhin zusammenarbeiten können und ich hätte grosse Sorge um unsere Menschenrechte, um mein Recht, dass ich auch eine Instanz habe ausserhalb der Schweiz, an die ich mich wenden könnte.» Und Erich von Siebenthal meinte: «Dranbleiben. Die Zeit bleibt nicht still. Es ist die Verantwortung der Politik, nach Lösungen zu suchen, welche auch schweizerisch sind, wo unsere Einzigartigkeit weiterhin ein Gewicht hat und ich hoffe, dass auch die Politik wieder mehr auf die Bevölkerung hört und die Anliegen aufnimmt. Dann würden auch nicht mehr solche Initiativen lanciert. Wenn man das Volk wahrnimmt, dann passiert das nicht. Dranbleiben, wie das schon unsere Vorfahren gemacht haben.


SELBSTBESTIMMUNGSINITIATIVE

Ausgangslage
Staaten oder internationale Organisationen (z.B. UNO) vereinbaren miteinander völkerrechtliche Verträge. Völkerrechtliche Verträge der Schweiz sind beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), das Freihandelsabkommen mit China oder die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Es kann vorkommen, dass eine Regelung in einem völkerrechtlichen Vertrag der Bundesverfassung widerspricht. Die Regelung im völkerrechtlichen Vertrag sagt also etwas anderes als eine Regelung in der Bundesverfassung. Grundsätzlich hat heute der völkerrechtliche Vertrag Vorrang vor der Bundesverfassung. Es gibt für die Schweiz verschiedene Möglichkeiten, diese Situation zu lösen. In den meisten Fällen wird ein Schweizer Gesetz geändert. Seit 1977 kann ein Referendum ergriffen werden, wenn gewisse völkerrechtliche Verträge abgeschlossen werden sollen. Das heisst, dass die Stimmbevölkerug über den Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages abstimmen kann.
Was würde sich ändern?
Wird die Initiative angenommen, so hat neu die Bundesverfassung grundsätzlich Vorrang vor völkerrechtlichen Verträgen. Widerspricht also eine Regelung in einem völkerrechtlichen Vertrag der Bundesverfassung, wird diese Regelung in der Schweiz nicht angewendet. Die Schweiz muss dann versuchen, diesen völkerrechtlichen Vertrag neu auszuhandeln, sodass er nicht mehr der Bundesverfassung widerspricht. Wenn das nicht geht, muss die Schweiz diesen Vertrag grundsätzlich kündigen. Dies gilt auch für bereits abgeschlossene völkerrechtliche Verträge. Nur völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterstanden sind, haben weiterhin Vorrang vor der Bundesverfassung. Zwingendes Völkerrecht muss auch weiterhin eingehalten werden und geht der Bundesverfassung vor. Zwingendes Völkerrecht sind z.B. das Folterverbot, das Verbot des Völkermordes und das Verbot des Sklavenhandels.
Quelle: easyvote.ch

 


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