«Ein Netz der gegenseitigen Unterstützung spannen»

  26.02.2019 Gstaad, Kultur

Die Zwangsverheiratung von minderjährigen Frauen ist aktueller, als viele denken. Die jemenitische Regisseurin Khadija Al-Salami hat das Thema in Form eines Spielfilms an die Oberfläche geholt. Das Ciné-Theater in Gstaad strahlte das Werk in Form einer Benefiz-Veranstaltung aus.

SARA TRAILOVIC
Mit ihrem Spielfilm «Ich Nojoom, 10 Jahre alt und geschieden» will Khadija Al-Salami vorallem eines: Die Zuschauer für die ungerechte Lage der Frauen im Jemen und auf der ganzen Welt sensibilisieren. Zu diesem Zweck hat Hans Jörg Beck das Ciné-Theater in Gstaad am vergangenen Freitag kostenlos zur Verfügung gestellt. Der gesamte Erlös der Vorführung kommt Kindern im Flüchtingslager Tharawan im Jemen zugute. Durch die Anwesenheit der Regisseurin konnten die zahlreichen Besucher nach Filmende im Plenum Fragen stellen und hinter die Kulissen der preisgekrönten Produktion blicken.

Tradition gegen Menschenwürde
Die erste Szene des Films zeigt, wie die 10-jährige Nojoom in einen Gerichtssaal der Hauptstadt Sanaa platzt und ihre eigene Scheidung beantragt. Dann springt der Film zurück zur Geburtsstunde des Hauptcharakters. Die Mutter möchte ihr den Namen Nojoom (übersetzt «die Sterne») geben, doch der Vater Ahmed beharrt auf der Endung mit d – Nojood, was «die sich Versteckende» bedeutet. Im Verlaufe ihres Lebens bleibt das Mädchen ihrem inoffiziellen Vornamen treu und damit auch sich selbst.

Nach einigen friedlichen Jahren im armen Heimatdorf gerät die Familie in Schwierigkeiten. Nojooms Schwester Najla wird von einem Nachbarn vergewaltigt. Um die Ehre der Familie zu retten, verheiratet der Vater sie mit dem Täter. Doch bald verbreitet sich das Gerücht, Najla habe ihre Jungfräulichkeit bereits vor der Ehe verloren – eine unverzeihliche Schande. Das Leben im Bergdorf wird somit zur Qual, weshalb die ganze Familie in die Hauptstadt Sanaa zieht. Die Ersparnisse sind schnell aufgebraucht, der Wohnraum ist knapp. So kommt es, dass das Familienoberhaupt die 10-Jährige mit einem Bergbauern eines traditionellen Stammes verheiratet. Im Gegenzug erhält Ahmed ein zünftiges Mitgift, mit dem er die Familie weiter über Wasser halten kann. Den goldenen Ehering verkauft Nojoom augenblicklich, um sich eine rosa Puppe leisten zu können, bevor sie ihre Familie verlassen muss. Fortan lebt sie mit ihrem konservativen Ehemann und dessen Mutter in den Bergen. Nach der brutalen Hochzeitsnacht liegt die Spielzeugpuppe geköpft neben der blutverschmierten Nojoom.

Statt sich dem Eheleben zu fügen, wie es die Kultur verlangt, kämpft Nojoom solange gegen die unmenschlichen Verhältnisse an, bis ihr Gatte sie zurück nach Sanaa bringt. Ahmed solle das widerspenstige Gör zur Vernunft bringen. Als ihr Vater keine Anstalten macht, Nojoom wieder zu Hause aufzunehmen, rennt sie weinend aus der Wohnung. Einige Minuten später schliesst sich der Kreis zur Anfangsszene im Gerichtssaal. Der Richter ist ratlos, nimmt das Mädchen aber vorerst bei sich auf und organisiert eine Anwältin.

Beim Gerichtsverfahren stehen sich zwei Mächte gegenüber: religiöse Tradition und staatliches Recht. Schlussendlich siegt die Menschenwürde. Nojoom bekommt ihre Freiheit zurück und tanzt in der Schlussszene mit ihren Schulkameradinnen im Kreis.

«Jeden Tag gab es ein neues Problem»
In Wirklichkeit enden die Geschichten junger Frauen nur selten so glücklich. Eine reine Hollywood-Inszenierung ist der Film aber in keiner Weise. Der Plot basiert auf der Autobiografie von Nojood Ali, die als erstes Mädchen im Jemen eine rechtliche Scheidung beantragt hat. Nachdem das Buch 2010 erschienen war, fasste Khadija Al-Salami den Entschluss, einen Spielfilm zum Thema «Zwangsheirat» zu verwirklichen. Ein mutiger Schritt in einem Land wie dem Jemen, in dem die Meinungen in Sachen Tradition weit auseinandergehen. Beim Publikumsgespräch im Ciné-Theater erzählte Al-Salami von den zahlreichen Komplikationen während der Dreharbeiten.

Bereits die Kooperation der Produzentin Sheikha Prohaska-Alatas stellte einen Meilenstein in der Verwirklichung dar. «Männliche Produzenten zeigten kein Interesse für mein Projekt. ‹Wer interessiert sich schon für die Story eines jungen Mädchens?›, hiess es von allen Seiten.»

Das nächste Problem stellte die Suche nach Schauspielenden dar. Die jemenitischen Familien wollten ihre Töchter nicht in der Rolle von Nojoom sehen und auch viele männliche Darsteller trauten sich nicht an das kontroverse Thema. «Zum grossen Glück übernahm meine damals 10-jährige Nichte die Hauptrolle.»

Ein Grossteil der Dreharbeiten spielten sich in den Bergregionen Jemens ab. «Die Einheimischen dort kennen keinen Strom und hielten die elektrische Beleuchtung für Magie», erzählte die Regisseurin dem Publikum in Gstaad. «Ein Mann war so fasziniert von den Lichtern, dass er eines Nachts auf sein Dach kletterte, um uns zu beobachten, dabei abstürzte und starb – das war das tragischte Erreignis des ganzen Drehs.»

Doch die Mühe hat sich offensichtlich gelohnt. «Ich bereue einzig, dass wir kein Making-of zusammengestellt haben. Jeden Tag gab es ein neues Problem», so die Filmemacherin. 2014 wurde «Ich Nojoom, 10 Jahre alt und geschieden» erstmals ausgestrahlt. Der Film war an Filmfestivals in ganz Europa zu sehen und wurde bereits mit 25 Preisen ausgezeichent.

Die Unmittelbarkeit wühlte jeden auf
Das häufige Nasenschnäuzen konnte das Publikum nicht auf die kalte Jahreszeit schieben. Wo bei Dokumentarfilmen im Fernseher oftmals eine gewisse Distanz zum Thema übrigbleibt, wurden die Zuschauer im Ciné-Theater viel unmittelbarer mit dem Inhalt konfrontiert. Die persönliche Anwesenheit der Regisseurin verringerte die geografische sowie mentale Distanz zur fremden Kultur.

Während des Abspanns fingen die ersten Zuschauer an, mit den Jacken zu rascheln und aufzustehen, da trat Khadija Al-Salami vor die Leinwand. Sie sei nun offen für Fragen und Kommentare.

Die Gäste hielten erstaunt inne, dann schnellten mehrere Arme in die Höhe. Eine engagierte Zuschauerin: «Auch in Europa und Amerika gibt es eine vermehrte Tendenz zu Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung junger Frauen. Was können wir dagegen tun?» Al-Salami bestätigte die Aussage: «Wenn sich die Denkweise weltweit nicht bald ändert, werden in fünf Jahren 700 Millionen Frauen unter 18 Jahren in einer Zwangsehe leben.» Das Problem in Jemen selbst sei nicht nur die Armut, sondern auch die Ignoranz der Jemenitinnen und Jemeniten gegenüber der Ungerechtigkeit, meinte Al-Salami. Eine Lösung dafür wäre die Bildung der Frauen. «Nur wer gebildet ist, kennt seine Rechte und kann sich wehren.»

Das gilt auch für Frauen aus liberalen Verhältnissen. Filmvorführungen wie diese helfen den Opfern indirekt. Eine Zuschauerin fasste den Abend sehr schön zusammen: «Genau wegen solchen Projekten fangen die Leute an, ein Netz der gegenseitigen Unterstützung aufzuspannen.»


DAS RECHT DER FRAU IN JEMEN

Die Republik Jemen liegt am Südende der Arabischen Halbinsel, die Staatsreligion ist der Islam. Als der «Arabische Frühling» anfangs 2011 den nahen Osten erfasste, kam es im Jemen zu einer Reihe von Massendemonstrationen, die für die Frauen den Beginn einer neuen Ära bedeuteten. Dabei sprach sich das Volk gegen das diktatorische Regime, die erzwungenen Traditionen (darunter die festgefahrenen Geschlechterrollen) und die konservative Interpretation des Islams aus. Die Protestbewegung fand ihre Antriebskraft nicht nur im westlichen Vorbild, sondern auch in der Geschichte des eigenen Landes: Der Jemen erlebte seine Blütezeit unter der Herrschaft zweier Königinnen.

Nach der Abdankung des bisherigen Präsidenten bildete sich die Partei National Dialogue Conference (NDC), die zu 30 Prozent aus Frauen bestand. Hauptaufgabe der NDC war das Formulieren einer neuen Verfassung, in der unter anderem ein Verbot von Kinderehen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau festgelegt werden sollte.

Kurz bevor die neuen Gesetze eingeführt werden sollten, kam es im Jemen 2015 zum Krieg mit den Huthi-Rebellen. Unter diesen Umständen trat die Durchsetzung der Frauenrechte nicht nur in den Hintergrund, viele Aktivistinnen wurden sogar verfolgt. Auf der Flucht wurde häufig ihr eigener Körper als Waffe gegen sie eingesetzt.

Der Krieg ist bis heute im Gange und verhindert die Weiterentwicklung der Frauenrechte. 51 Prozent der minderjährigen Jemenitinnen werden heute noch zur Eheschliessung gezwungen.

 


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