Wirtschaftlichkeit versus Menschenwürde?

  13.03.2020 Interview, Gesundheitswesen

Immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Alzheimer Schweiz spricht von rund 155’000 Betroffenen und rechnet bis in 20 Jahren mit einer Verdoppelung dieser Zahl. Doch der Pflege- und Betreuungsaufwand für Menschen mit Demenz wird nicht der Realität entsprechend erfasst und abgegolten. Kleine Demenzhäuser mit einem bedarfsgerechten Angebot können dadurch in Schieflage geraten. Ist das Verrechnungssystem unfair? Und wenn ja, was kann man dagegen tun?

KEREM S. MAURER

Um die Situation der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz in eine Relation zu den Gesamtgesundheitsausgaben von jährlich 82,5 Milliarden Franken (im Jahr 2017) zu setzen: Wie hoch ist der Kostenanteil, der von Menschen mit Demenz «verursacht» wird?
Ruth Lempen (RL):
Laut Bundesamt für Statistik gibt es in der Geriatrie (Altersmedizin) zwei übergeordnete Patientengruppen: Nämlich geriatrische Patienten mit und solche ohne Demenz. Die jährlichen Gesamtausgaben für beide Gruppen belaufen sich auf 16 bis 17 Prozent, sprich 10 bis 13 Milliarden Franken in der stationären Altersarbeit pro Jahr. Wie viel davon auf Menschen mit Demenz entfällt, wird nicht erhoben. Schätzungen zufolge sind es etwa 40 bis 45 Prozent.
André Streit (AS): Ich denke auch, es geht dabei um 5 bis 6 Milliarden Franken bei Menschen, die eine Rund-umdie-Uhr-Betreuung brauchen.

Was muss ein Betroffener mit schwerer Demenz selber noch bezahlen, wenn er in ein Heim geht oder ein bedarfsgerechtes Angebot in Anspruch nimmt? Und wer bezahlt das für finanziell nicht so gut situierte Familien?
AS:
Diese Kosten sind auf einem Tarifblatt je nach Pflegestufe der Betroffenen genau ausgewiesen. Im Kanton Bern gibt es 13 Pflegestufen (0 bis 12). Zur Ermittlung dieser Stufen wenden wir das RAI/RUG-System an («Resident Assessment Instrument» – auf Deutsch: Bedarfsabklärungsinstrument für Heimbewohner). Praktisch alle Bewohnende unseres Heimes bewegen sich in den Stufen 5 bis 9. Wobei ab Stufe 3 für alle der gleiche Tagessatz von 187 Franken gilt. Das ist die Obergrenze. Dazu kommen noch Beiträge von Kanton und Krankenkassen. Selber bezahlt ein Patient jährlich etwa 68’000 Franken. Rund 60 bis 70 Prozent aller Patienten können diesen Betrag allerdings nicht selber stemmen. Bei ihnen wird er über Ergänzungsleistungen (EL) abgegolten. Das heisst, in der Schweiz kann jeder betagte Mensch, der auf die Angebote eines Heims angewiesen ist, in ein Heim eintreten – egal wie seine finanzielle Situation aussieht.
RL: Wie gesagt: Demenzerkrankte und nicht demenzerkrankte Menschen in einer stationären Alterseinrichtung bezahlen denselben Preis. Hier stossen wir auf eine grosse Ungerechtigkeit im System: Beide Patientengruppen in der Geriatrie haben denselben Tarif, obschon sie unterschiedliche Bedürfnisse und demzufolge einen grossen Aufwandunterschied haben. Bei den demenzerkrankten Menschen kommt zum täglichen Pflege- mindestens ein gleich hoher oder höherer Betreuungsaufwand dazu, welcher im heutigen System weder erfasst noch abgegolten wird. Für beide geriatrischen Gruppen werden lediglich elf Minuten Betreuungszeit pro 24 Stunden (Tag und Nacht) über die Ergänzungsleistung vergütet. Die restliche Betreuungszeit bleibt auf der Strecke oder wird aus gemischten Gruppen quersubventionert, egal, wie die Bedürfnisse der Bewohner liegen.

Es heisst oft, es rentiere sich nicht für ein klassisches Alters- und Pflegeheim, Menschen mit Demenz aufzunehmen, weil die Abgeltungen für Betreuung und Pflege viel zu gering seien. Stimmen Sie dem zu? Und wie könnten diese Abgeltungen erhöht werden?
AS:
Nein! Das würde ich so nicht unterschreiben, das stimmt nicht. Denn: Würden wir keine Menschen mit Demenz aufnehmen, wäre unser Heim zur Hälfte leer, weil etwa 50 Prozent unserer Bewohner eine Demenz haben. Dies käme einer Bankrotterklärung gleich. Doch nicht alle Demenzkranken brauchen eine spezialisierte Pflege. Viele bei uns haben eine, wie ich es nenne, «Altersdemenz». Dieser Ausdruck ist nicht wissenschaftlich. Mit diesen Bewohnenden haben wir nicht mehr Aufwand als mit Patienten ohne Demenz. Daneben führen wir in Saanen und in Zweisimmen je eine Abteilung mit Schwerdementen. Für diese braucht es tatsächlich ein bedarfsgerechtes Angebot, wie es auch Frau Lempen anbietet. Der Gesamttarif ist aber so aufgebaut, dass man solche Fälle auffangen kann. Wir führen noch andere Gruppen in unserem Heim, die zu gering abgegolten werden. Dafür gibt es auch solche, die eher zuviel bezahlen. So geht die Mischrechnung unter dem Strich auf. Mir sind jedenfalls keine Alters- und Pflegeheime bekannt, die aus finanziellen Gründen schliessen mussten. Dabei spielt auch die Grösse des Heims eine Rolle. Je grösser es ist, sprich, je mehr Betten es hat, desto einfacher ist es, ein Heim finanziell zu führen. Dennoch bin ich ein Fan von kleinen Heimen, sonst hätten wir die Führung im Sunnebühl, Lauenen, nicht übernommen. Aber unter einer gewissen Grösse kann ein bedarfsgerechtes Angebot nicht finanziert werden. In klassischen Alters- und Pflegeheimen mit gemischten Gruppen kann das Ganze quersubventioniert werden. Wie hoch der Betrag ist, den wir pro Tag und Bewohner quersubventionieren, kann ich allerdings nicht sagen.
RL: In der Altersgruppe der Menschen ab 80 Jahre leben rund 28 Prozent in Heimen und sind mittel bis schwer krank. Heutige Heime haben eine hohe Versorgung und ähneln immer mehr Spitälern. Doch bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz gibt es nebst der Pflege einen weiteren Fokus: Die Betreuungsleistung. Die geriatrischen Patienten mit Demenz müssen täglich in ihrer Welt abgeholt, mit Fürsorge begleitet und rund um die Uhr betreut werden. Ich erhebe den Anspruch, dass man alle Menschen mit schwerer Demenz in ein bedarfsgerechtes Angebot aufnimmt. Und sie nicht einfach in ein Heim mit gemischten Gruppen platziert, um Betten zu füllen, damit es sich rentiert. Das ist für mich ein absolutes No-Go. Wir haben im Haus Fuhrenmatte zwölf Plätze und sind seit 2007 auf dem Markt. Wir betreuen schwerkranke Menschen mit Demenz und haben durchwegs eine Auslastung von 96 bis 100 Prozent. Dennoch kämpfen wir ums Überleben, weil die Betreuungszeit seitens Kanton und Krankenkasse nicht bezahlt wird. Ich fordere: Bereits bei der Diagnose muss man besser hinschauen und das Bedürfnis exakt abklären. Ist die Demenz mittel bis schwer, gehört der Betroffene in ein bedarfsgerechtes Angebot und nicht in eine gemischte Abteilung. Für mich ist unser Heim nicht zu klein, es geht schliesslich auch um Menschenwürde. Und jetzt sind wir beim Punkt angelangt: Wirtschaftlichkeit versus Menschenwürde. Und da helfe ich nicht mit. Es kann doch nicht sein, dass man auf Kosten derart kranker Menschen mit gemischten Gruppen Quersubventionierung betreibt.

Um wie viel höher ist der Betreuungsaufwand für Menschen mit schwerer Demenz im Vergleich zu geriatrischen Patienten ohne Demenz?
RL:
Ich weiss aus meiner Erfahrung, dass der Betreuungs- und Pflegeaufwand bei Menschen mit schwerer Demenz um zirka einen Drittel höher liegt als bei Menschen ohne Demenz. Auf dem vorgegebenen 13-seitigen Erfassungsformular MDS (Mini-Data-Set) von RAI/RUG, welches 17 Bereiche umfasst, fallen nur drei Bereiche, nämlich B, C und P, auf Menschen mit Demenz. Die restlichen 14 Bereiche sind zugunsten von nicht Demenzerkrankten betreffend Tarifstufe. Für beide Gruppen muss dasselbe MDS benutzt werden. Im Klartext heisst das: Mobile Demenzerkrankte im Kanton Bern kommen in die Stufe 4 und mit der Codierung P2d im MDS in die Tarifstufe 7 von 12. Höher können bis heute Demenzerkrankte nicht eingestuft werden, ausser die körperlichen Defizite überwiegen die kognitiven. Um die ganze Sache fair abzugelten, müssten zirka 80 Franken mehr pro Bewohner und Tag bezahlt werden als heute. 400 Franken würden eher der Realität entsprechen. Doch schon mit 50 Franken mehr wäre ich glücklich. Durch den interdisziplinären Betreuungsaufwand generieren wir täglich zahlreiche Stunden, die nicht abgegolten werden.
AS: Wir fahren in der Demenzabteilung einen um etwa 20 Prozent höheren Stellenplan beim Pflege- und Betreuungspersonal als in der normalen Abteilung. Doch meiner Meinung nach ist der klassische Pflegeaufwand in der normalen Abteilung oftmals höher als in der Demenzabteilung. Der Betreuungsaufwand dagegen ist bei den Dementen wesentlich höher, da stimme ich Frau Lempen zu.

Warum ist denn die Abgeltung so tief, obschon man offensichtlich weiss, dass die Betreuung wesentlich intensiver ist?
RL:
Wie bereits mehrmals betont, liegt ein Hauptgrund im System und wohl auch darin, dass die Dementen keine Lobby haben, weder bei den Verantwortlichen noch beim Kanton. Ich kritisiere den Kanton, weil er die Krankheit Demenz nicht korrekt erfasst und nicht bezahlt, aber auch dafür, dass er Bettenfüllen vor Menschenwürde durchwinkt. Das jetzige System könnte angepasst werden, denn es bräuchte lediglich eine einzige Änderung, eine schlichte Frage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann: Braucht der Patient ein bedarfsgerechtes Angebot? Dazu bräuchte es eine separate Definition, was das sogenannte bedarfsgerechte Angebot für Menschen mit Demenz ist: höherer Stellenplan, geschützte Architektur, nahezu wie zu Hause leben, damit überprüft werden kann, wohin das Geld fliesst.
AS: Das System müsste angepasst werden, das sehe ich auch so. Eine bessere Erfassung und Abgeltung wird schon lange gefordert. Wir haben mit dem RAI/RUG ein schweizweites, ja sogar internationales Erfassungsmodell. Dazu gibt es den sogenannten MDS-Punkt P2d, der die bessere Abbildung von Demenz- oder psychogeriatrischen Fällen ermöglicht. Weitere Verbesserungen des Systems sind möglich, doch damit verbunden ist ein sehr langer Bewilligungsweg mit der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern, den Ergänzungsleistungen, den Ausgleichskassen und so weiter. Es müsste eine schweizweite Umstellung des Systems geben. Und das ist ein richtig langer Weg. Auch sehe ich gewisse Gefahren. Man muss aufpassen, dass die Pflegenden nicht noch mehr administrativen Aufwand zu bewältigen haben. Wenn sie nämlich nur noch am Erfassen und Dokumentieren sind, fehlt ihnen letztlich die Zeit, sich um die Pflegebedürftigen zu kümmern. Und das wollen wir ja auch nicht.

Sie haben gesagt, es sei eine Gruppe eingesetzt worden, die sich genau diesem Thema annimmt. Wie lange gibt es diese schon und was macht sie konkret?
AS:
Der Kanton hat diese neue Arbeitsgruppe vor rund drei Monaten ins Leben gerufen. Auch ich bin in dieser Gruppe seitens Curaviva dabei, weil ich Vorstandsmitglied und für das Ressort Heimfinanzierung zuständig bin. Zuerst geht es darum, dass alle Mitglieder dieser Gruppe die komplexen Zusammenhänge des Verrechnungssystems begreifen. Und zwar vom Eintritt über die Einstufung bis hin zum Tod. Bis 2022 soll das greifen, damit aufs Jahr 2023 aufwandgerechtere Tarife eingeführt werden können. Das ist ein sehr sportliches Ziel, aber wenn unser Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektor Pierre Alain Schnegg etwas erreichen will, kann er Dampf machen. In dieser Gruppe sind Leute, die von der Pflege und den Finanzen etwas verstehen und sich die Zeit nehmen, sich vertieft in die Materie einzudenken.
RL: Da sind Sie ja genau am richtigen Ort. Ich setze grosse Hoffnungen in Sie, Herr Streit. Ihre Gruppe hat es in den Händen, dass es zu einer gerechteren Umverteilung der Gelder in der stationären Altersarbeit im Kanton Bern kommt. Es braucht nicht mehr Geld im Topf. Ich schöpfe Hoffnung. Es wird in Zukunft immer mehr Menschen mit Demenz geben. Diese bodenlose Krankheit kann jeden und jede von uns treffen. Ich freue mich täglich über mein gutes Team, welches mit Liebe, Respekt und Humor immer wieder frisch zur Arbeit kommt. Es ist eine sinn- aber auch sehr anspruchsvolle Arbeit.
AS: Das haben Sie sehr schön gesagt, dem schliesse ich mich an. Auch dahingehend, dass sich bei dieser Krankheit nichts mehr verbessert und es Menschen gibt, die den Lebensabend der Betroffenen so gut und so schön wie möglich gestalten. Das ist eine riesige Herausforderung.


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