«Einige Schweizer suchen oft das kleine Haar in der ansonsten wunderbaren Suppe!»

  07.07.2020 Gesellschaft, Interview, Saanenland, Schweiz

Die Vereinigten Staaten von Amerika üben seit seiner Jugend eine grosse Faszination auf Thomas von Grünigen aus. Seit Januar 2015 wohnt und arbeitet der Mann mit Bürgerort Saanen in Manhattan, wo er als USA-Korrespondent für das Schweizer Fernsehen tätig ist. Im Interview erzählt er über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die es so für viele gar nicht gibt.

KEREM S. MAURER

Thomas von Grünigen, wie sind Sie dazu gekommen, in den USA zu arbeiten?
Die USA faszinieren mich schon seit meiner Jugend. Als Student schaute ich oft CNN. Als ich im Jahr 2000 an einer Universität in der Hauptstadt Washington ein Auslandsemester machte und ein Praktikum bei einem amerikanischen TV-Sender absolvierte, kam es in der Wahl zwischen Al Gore und George W. Bush zu diesem Auszählchaos. Das war eine dramatische Zeit. Seither hegte ich den Wunsch, als Journalist in den USA zu arbeiten. Fünfzehn Jahre später ging dieser Wunsch in Erfüllung.

Was genau ist denn so faszinierend an diesem Land?
Im Gegensatz zur Schweiz werden in den USA im wahrsten Sinn des Wortes weltbewegende Entscheide getroffen. Das macht es sehr interessant. Dazu kommen die grossen Städte. Das ganze Leben erscheint mir spannender als in der beschaulichen Schweiz.

Man spricht im Zusammenhang mit den USA oft vom «Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Stimmt dieses Klischee für Sie?
Persönlich stimmt das für mich tatsächlich. Das Leben hier hat etwas Befreiendes. Die Menschen sind offener für innovative Ideen, müssen sich weniger vorgegebenen Verhaltensschemen anpassen. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten aber vor allem für die weisse Mittel- und Oberschicht. Menschen aus armen Familien, insbesondere Latinos und Schwarze, sind stark benachteiligt. Der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär ist in den USA schwieriger als in vielen europäischen Ländern.

Werfen wir einen Blick auf Ihre Arbeit. Präsident Donald Trump gilt nicht als grosser Freund der Presse. Wie gestaltet sich Ihre Arbeit während seiner Amtszeit?
Es ist nicht mehr so, wie noch vor vier oder fünf Jahren zu Barack Obamas Amtszeit. An Trump-Veranstaltungen erleben wir oft direkten Hass von seinen Anhängern. Donald Trump peitscht die Menschen gegen Journalisten auf, um von seinen eigenen Fehlern abzulenken. Obschon man sagen muss, dass die Trump-Fans im persönlichen Kontakt meist umgänglich und gastfreundlich sind. Aber in der Masse werden manche von ihnen für Journalisten bedrohlich.

Wie erleben Sie die momentanen Unruhen im Zusammenhang mit den Demonstrationen wegen der Tötung von Afroamerikanern durch die Polizei?
Es ist eine aufwühlende Zeit. Die USA werden von ihren Sünden der Vergangenheit, die sie nie aufgearbeitet haben, eingeholt. Die Dreharbeiten an Demonstrationen sind oft sehr schwierig. Einige Polizisten scheinen voller Wut auf Journalisten zu sein.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ein befreundetes europäisches TV-Team wurde in Minneapolis mit Absicht aufs Brutalste von der Polizei angegriffen. So etwas würde man in einer Demokratie kaum erwarten. Zugleich müssen wir bei Dreharbeiten auch versuchen, uns vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen. Es kommt derzeit vieles zusammen.

Wie ist es für einen Schweizer, in den USA zu arbeiten? Wir denken ja immer, die Schweiz kennt jeder. Ist das so?
Die USA sind eine ganz andere Liga. Wenn wir hier als kleines Schweizer Fernsehen bei Behörden oder Unternehmen für ein Interview anfragen, kommt manchmal gar keine Antwort. Offenbar will man keine Zeit verschwenden für den TV-Sender eines kleinen, weit entfernten Landes. Anders ist es oft beim direkten Kontakt mit Privatpersonen. Viele Leute freuen sich über das Interesse aus Europa und geben gerne Auskunft. Auch wenn wir manchmal mit Schweden verwechselt werden.

Was wünschen Sie sich für die USA in Zukunft?
Die dramatische Spaltung in diesem Land beunruhigt mich. Klar, schwere Konflikte gab es schon immer, aber zurzeit werden die Menschen durch den Präsidenten und parteiische Medien gegeneinander aufgewiegelt. Insofern ist meine Hoffnung, dass die USA diese turbulente Phase heil überstehen und bald wieder zu einem halbwegs kompromissfähigen Umgang zurückfinden können.

Wird Präsident Trump im Herbst für eine weitere Amtszeit gewählt?
Es sieht zurzeit nicht so gut aus für seine Wiederwahl. Beim Umgang mit der Corona-Krise und der Bewegung «Black Lives Matter» machte er bisher keine gute Figur. Ich möchte aber keine Prognose wagen. Das Land ist in Bewegung, da kann noch viel passieren.

Kommen wir zum Schluss auf Ihre Heimat zu sprechen. Was verbindet Sie noch mit dem Saanenland?
Als Kind waren wir oft in Feutersoey in den Ferien. Das ist eine wunderbare Gegend! Ich erinnere mich gut an das «Wispile-Bähndli» oder das familiäre Tennisturnier in Gstaad. Seit ich in den USA lebe, vermisse ich das Wandern im Berner Oberland, das nur durch den Besuch eines YB-Matchs in Bern übertrumpft wird, sehr. Sobald meine Zeit in den USA abgelaufen ist, werde ich das nachholen.

Wann kommen Sie wieder zurück?
Solche Korrespondentenstellen sind auf vier bis sechs Jahre befristet. Ich werde noch die Präsidentschaftswahlen begleiten und Anfang des nächsten Jahres meine Arbeit hier beenden. Was danach kommt, ist noch offen.

Was nehmen Sie mit aus Ihrer Zeit in den USA?
Je länger ich im Ausland lebe, desto mehr wird mir bewusst, wie einzigartig friedlich und gut organisiert die Schweiz ist. Die USA und weite Teile der Welt werden von schweren Konflikten dominiert, Vieles funktioniert nicht. Im Vergleich dazu ist die Schweiz ein Paradies. Einige Schweizer suchen oft das kleine Haar in der sonst wunderbaren Suppe, was von aussen betrachtet manchmal etwas bärbeissig wirkt. 


ZUR PERSON

Thomas von Grünigen (46), SRF-Korrespondent in New York, ist in Burgdorf geboren und in Bern aufgewachsen. Sein Heimatort väterlicherseits ist Saanen. Bevor er im Jahr 2015 als SRF-Korrespondent nach Manhattan zog, war er bereits sieben Jahre für die Redaktion der Rundschau in Zürich tätig. Sein Engagement in New York läuft im nächsten Frühjahr aus. Thomas von Grünigen ist unverheiratet. In seiner Freizeit zieht es ihn zum Wandern oft ins Grüne und er tanzt gerne kubanische Salsa, was aber momentan wegen Corona nicht möglich ist. Er verrät: «In New York bin ich zum Opernfan geworden.»

KEREM S. MAURER


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