50 Jahre Ehrenbürger Yehudi Menuhin

  04.09.2020 Saanen, Kultur

Heute vor genau 50 Jahren, am 4. September 1970, wurde Yehudi Menuhins Verleihung des Ehrenbürgerrechts in der Kirche Saanen gefeiert. An der Gemeindeversammlung vom 25. April 1970 hatte die Gemeinde Saanen entschieden, den weltberühmten Klassikstar auch als Bürger aufzunehmen. Mit ihm erhielten ebenso seine Frau Diana, ihre beiden Söhne Gerard und Jeremy und alle folgenden Generationen das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Saanen.

ÇETIN KÖKSAL
Laut einer Legende erhielt der 1916 in New York geborene Sohn von Marutha und Moshe Menuhin seinen Namen Yehudi (der Jude) aufgrund von antisemitischen Erlebnissen der Eltern. Marutha und Moshe waren unabhängig voneinander von Palästina in die USA immigriert, wo sie sich lieben lernten und auf der Wohnungssuche in der New Yorker Bronx auf judenfeindliche Ablehnung stiessen. Womöglich aus Protest und Kampfansage gegen dieses Unrecht entschieden sie sich – gemäss Legende
– ihren Erstgeborenen Yehudi zu nennen. Gestorben ist Lord Menuhin 1999 in Berlin während einer Konzerttournee. Er war der erste Klassikstar mit weltweiter Strahlkraft, der auch Menschen ohne besonderes Interesse an klassischer Musik erreichte. Vom Geige spielenden Wunderknaben zur international beachteten und geschätzten Persönlichkeit. Wie ist es dazu gekommen und welche Bedeutung hat sein reiches Erbe heute hier im Saanenland?

Wunderkind und Krise
Yehudi wuchs mit seinen beiden Schwestern Hephzibah und Yaltah in behüteten Verhältnissen in San Francisco auf. Seine Eltern waren sehr streng und darauf fokussiert, sein augenscheinliches Talent mit allem zu fördern, was sie hatten. Als Zehnjähriger debütierte Yehudi mit dem San Francisco Orchestra. Als Solist spielte er Violinkonzerte von Tschaikowski und Lalo. Ein Jahr später, also 1927, trat er zum ersten Mal in der New Yorker Carnegie Hall auf, wo er das Beethoven-Geigenkonzert zum Besten gab und ihn das New York Symphony Orchestra unter Fritz Busch «begleitete». Weitere Konzerte und erste Plattenaufnahmen folgten. Als 13-Jähriger spielte der als Wunderkind vermarktete Yehudi Menuhin unter der Leitung von Bruno Walter mit den Berliner Philharmonikern die drei grossen Violinkonzerte von Bach, Beethoven und Brahms. Im selben Jahr setzte er sein Geigenstudium beim neuen Lehrer Adolf Busch in Basel fort. Gleichzeitig bestritt der Jüngling in den Folgejahren unzählige Auftritte und avancierte zum bestbezahlten Künstler der damaligen Zeit.

Das Leben der Menuhin-Familie richtete sich nach der Karriere ihres Jungstars. Nach einer ermüdenden Welttournee durch Australien, Neuseeland, Südafrika und Europa machten sich beim 19-Jährigen erste Krisenerscheinungen bemerkbar. Körperliche Beschwerden beim Geigenspiel und das strenge, enge Korsett der Familie machten ihm zu schaffen.

Kriegsjahre
Ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs heiratete Yehudi Menuhin seine erste Frau Nola Nicholas. Als 1939 in Europa Krieg geführt wurde, weilte das frisch vermählte Paar in Australien. Ende September, also kurz nach dem Überfall von Hitlerdeutschland auf Polen, kam Tochter Zamira zur Welt. Vater Yehudi gab derweil viele Konzerte und spielte neue Plattenaufnahmen ein. 1940 kam Sohn Krov auf die Welt und nach dem Kriegseintritt der USA 1941 begann der berühmte Geiger Konzerte für Soldaten aller alliierten Truppen zu geben. Es sollen um – unglaubliche – 500 Auftritte gewesen sein. Im selben Jahr absolvierte er eine Tournee in Lateinamerika, besuchte während der «Kriegskonzerte» 1943 auf abenteuerliche Weise England, spielte 1944 für Truppen auf den Aleuten und für Verbände der Pazifiktruppen in Hawaii.

Gegen Kriegsende musizierte Menuhin zusammen mit Benjamin Britten für die Überlebenden im KZ Bergen-Belsen. Diese rege Tätigkeit machte Yehudi Menuhin in den Augen vieler zum Friedenssymbol, zu Hause aber scheiterte seine erste Ehe, vermutlich auch, weil er fast nie da war.

Von Kalifornien ins Saanenland
Erste Begegnungen mit den Schweizer Alpen machte Menuhin bereits als Jugendlicher während seiner Studienzeit in Basel. Ab 1954 verbrachte die Familie zuerst den Sommer und später auch die übrigen Jahreszeiten immer wieder im Saanenland. Familiäre Turbulenzen waren womöglich ein wichtiger Grund dafür, dass sie ihren Hauptsitz von Kalifornien nach Europa verlegte.

Natürlich schenkte auch der damals neu gewählte umtriebige Kurdirektor Paul Valentin diesem prominenten Zuzug Beachtung. Bereits 1956 fragte er Menuhin, ob er denn nicht Konzerte für die Sommergäste geben könnte. Dieser sagte ohne grosse Umschweife zu und so konnten bereits am 4. und 6. August 1957 die ersten Menuhin-Konzerte in der Kirche Saanen stattfinden – das Menuhin Festival ward geboren.

Anfang der Fünfzigerjahre entdeckte der berühmte Geiger auf einer Konzerttournee durch Neuseeland in einem Wartezimmer ein kleines Yogabuch, welches seine Neugier weckte. Begeistert vertiefte er sich in die Materie, studierte die Übungen zur Entspannung ein und lernte den Kopfstand. 1952 machte er auf einer Indienreise Bekanntschaft mit seinem zukünftigen Yogalehrer Bellur Krishnamachar Sundararaja Iyengar. Die beiden sollte eine langjährige Freundschaft verbinden und schon 1954 verbrachte der Yogi den Sommer im Kreis der Familie Menuhin in Gstaad. Ob die obligatorischen Tagesübungen morgens um Sieben bei der ganzen Familie auf Begeisterung stiessen, bleibt leider unklar. Auf jeden Fall besuchte B.K.S. Iyengar die Schweiz bis 1972 13 Mal, wobei er unter anderem auch im Hotel Landhaus in Saanen Yogakurse gab. Der indische Einfluss machte sich ebenso in musikalischer Hinsicht bemerkbar, indem in den Siebzigerjahren am Menuhin Festival der berühmte Sitarspieler Ravi Shankar auftrat und den Horizont des Publikums erweiterte. Manchmal traten Shankar und Menuhin auch gemeinsam auf, natürlich am hiesigen Festival, aber beispielsweise auch am Konzert der Vereinten Nationen zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1967.

1977 kam das Saanenland etwas unverhofft und als «Retter in der Not» zur IMMA (International Menuhin Music Academy). Die vom Menuhin-Schüler Alberto Lysy gegründete und geleitete Camerata Lysy war das Kammerorchester der Académie Internationale de Musique de Chambre in Breukelen-Laren in den Niederlanden. Aus finanziellen Gründen war sie gezwungen, ihre Aktivitäten aufzugeben, was Yehudi Menuhin auf die Idee brachte, die durch Auftritte an seinem Festival bereits bekannte Camerata Lysy ins Saanenland zu holen. Das Vorhaben gelang, nicht zuletzt auch dank der Unterstützung des damaligen Gemeinderats, und die Stiftung IMMA konnte gegründet werden.

Menuhins Erbe in der Gegenwart
Vor 50 Jahren wurde Yehudi Menuhin Ehrenbürger von Saanen und seit seinem Ableben sind 21 Jahre vergangen. Eine lange Zeit, in der sich vieles in der Welt getan hat. Auch das Saanenland ist anders geworden, verschiedenste Menschen sind gegangen und neue sind gekommen. Die Frage, ob Yehudi Menuhin denn noch immer von Bedeutung für unsere Region ist, sollte also nicht als Undankbarkeit oder gar Respektlosigkeit gedeutet werden. Im Gegenteil, sie bezeugt eigentlich, dass man sich mit dieser bedeutenden Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts auseinandersetzt und ihr nicht mit Gleichgültigkeit begegnet.

Vielleicht kommt man der Realität am nächsten, wenn man Menuhins Erbe zweiteilt. Einerseits sind da die gewachsenen Institutionen und andererseits das menschliche Gedankengut. Aus dem familiären Menuhin Festival ist eines der umfangreichsten Festivals klassischer Musik in der Schweiz geworden. Die IMMA ermöglicht ihren bis zu 18 Studenten eine dreijährige Ausbildung mit optionalem anerkanntem Bachelor- oder auch Masterabschluss, wobei die Grundgedanken ihres Gründers noch dieselbe Wichtigkeit haben.

Menschlichkeit und Freude an der Musik sind wichtiger als blosser Drill zu möglichst makelloser Perfektion. Zeit seines Lebens setzte sich Yehudi Menuhin für Werte wie Offenheit und Toleranz gegenüber dem anderen ein, verabscheute alles Totalitäre und versuchte mithilfe seiner Musik, Brücken zu bauen. Er war Optimist und der festen Überzeugung, dass uns Musik zu besseren Menschen macht. Gelten diese Werte nicht gerade auch heute noch?


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