Aktivität: der Schlüssel zu Freude und Energie

  25.09.2020 Gesellschaft, Interview

Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten setzen sich in Altersheimen dafür ein, dass Seniorinnen und Senioren ihre Lebensqualität beibehalten können – Alltagsgestaltung soll diesen Lebensfreude und -sinn schenken. Aktuell ist dieses Angebot wichtiger denn je.

NADINE HAGER
Das Maison Claudine Pereira in Saanen ist gut ausgelastet: Auf drei Stöcken verteilt haben ältere Menschen ihr Zuhause gefunden. Sie werden gepflegt und bekocht – doch trotzdem bedeutet das Leben in einem Altersheim nicht einfach nur Komfort. Denn mit der neuen Wohnsituation gleitet der bisherige Alltag und das bis anhin Vertraute weiter ausser Reichweite, als es vielen lieb ist.

Eine Herausforderung
Für das Wohnen im Altersheim müssen die Seniorinnen und Senioren ihr gewohntes Leben zurücklassen – eine Erfahrung, die es in sich hat. Jenseits des Gewohnten fehlt dann oft die Vorstellung dafür, wie man seinen neuen Alltag gestalten könnte. «Ältere Menschen haben vor allem etwas: Zeit», erklärt Daniela Chevalley, Aktivierungstherapeutin im Maison Claudine Pereira. Was im ersten Moment nach einem Geschenk klingt, kann für die Seniorinnen und Senioren zu einer grossen Belastung werden: tagein, tagaus viel Zeit zu haben und sich dabei fernab von der Vertrautheit des gewohnten Alltags in einem Heim zu befinden, kann zu Resignation und Vereinsamung führen. Es besteht die Gefahr, dass die älteren Menschen in ihrem neuen Alltag keinen Sinn mehr sehen und die Lust daran verlieren, sich zu betätigen. Genau an diesem Punkt kommen Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten ins Spiel.

Ein Programm für alle
Die Aktivierungstherapie hat viele Facetten: Auf der einen Seite umfasst sie individuelle und persönliche Betreuung – auf der anderen beinhaltet sie allgemeine Programmpunkte, welche regelmässig jeder und jedem zur Teilnahme offenstehen. Bei letzteren steht der soziale Austausch an hoher Stelle: «Unter Leuten zu sein, sich mitteilen, gemeinsam etwas erleben sind wichtige Bestandteile der Aktivierungstherapie», erläutert Daniela Chevalley. Im Maison Claudine Pereira werden zur Alltagsgestaltung beispielsweise Gruppenaktivitäten wie Turnen, Strickrunden, gemeinsames Backen, Singen, Gottesdienste, Gesellschaftsspiele und Spaziergänge angeboten. Solche Aktivitäten werden von den Aktivierungstherapeutinnen selbstständig geplant und dann in Wochensitzungen mit der Geschäftsleitung besprochen. «Besonders das gemeinsame Turnen ist beliebt», erklärt Chevalley, «aber auch die Gottesdienste werden gut besucht.» Welche Aktivität auch immer gewählt wird: Die Hauptsache ist, dass die Seniorinnen und Senioren weiterhin Aktivitäten machen können, welche ihnen Freude bereiten. Sei dies bei der Aktivität an sich oder dem Miteinander in der Gruppe. Währen den Gruppenaktivitäten wird zusätzlich indirekt der Vereinsamung im Alter entgegengewirkt. So kam es auch schon vor, dass sich die Altersheimbewohner/innen durch die Aktivierungsprogramme innerhalb der verschiedenen Stockwerke des Altersheims mischten und dann auch im Alltag mehr miteinander verkehrten.

Individuelle Betreuung
Obwohl diese Aktivitäten vorausgeplant und für alle gedacht sind, wird grossen Wert darauf gelegt, jede Seniorin und jeden Senior ganz persönlich abzuholen. Claudia Bircher hat im Maison Claudine Pereira von 2014 bis zu ihrer Pensionierung im August 2019 als Aktivierungstherapeutin gearbeitet. Aus Erfahrung berichtet sie: «Wenn jemand in das Altersheim eintritt, ist es ganz wichtig, dessen Gewohnheiten in Erfahrung zu bringen. Jeder hat seine ganz eigene Lebensgeschichte und somit auch ganz persönliche Bedürfnisse.» Diese individuellen Lebensgeschichten seien es, welche den betagten Menschen jene Vertrautheit geben könnten, die sie häufig vermissen. «Die Aufgabe von Aktivierungstherapeuten ist es, den Menschen zuzuhören, mit viel Empathie herauszuspüren, was sie brauchen – und dies dann so gut wie möglich auch umzusetzen.»

Daniela Chevalley nimmt sich jeden Dienstagmorgen und Freitagnachmittag Zeit für sogenannte «Einzelaktivierungen»: Dann geht sie auf ausgewählte Seniorinnen und Senioren zu, um sich einzeln mit ihnen auszutauschen und herauszufinden, wie es ihnen geht, wo ihre Bedürfnisse liegen. Je nachdem, was sie gerade brauchen, nimmt sie spontan eine Altersheimbewohnerin oder einen Altersheimbewohner mit, um beispielsweise einzukaufen oder Blumen zu giessen.

Aber auch im grösseren Rahmen wird auf die individuellen Bedürfnisse der Seniorinnen und Senioren eingegangen. So erzählt Claudia Bircher beispielsweise davon, wie sie für Seniorinnen mit einer Fondueliebe ein Fondueessen mit Musik und karierten Tischtüchern organisieren konnte, oder dass Altersheimbewohner/innen, welche gerne kochen, sich in der Küche betätigen dürfen.

Deshalb sei es sehr wichtig, nicht nur das aktuelle Befinden der Seniorinnen und Senioren wahrzunehmen, sondern ihre ganze Lebensgeschichte zu würdigen. Auf diese Weise könne man nicht nur individuell auf ihre Bedürfnisse eingehen, sondern ihnen auch mit jenem Respekt begegnen, den sie verdienen. Zu diesem Respekt gehöre auch, erklärt Claudia Bircher weiter, den Altersheimbewohnern/innen die freie Wahl zu geben, ob und an welchen Alltagsgestaltungsprogrammen sie teilnehmen möchten. «Den Seniorinnen und Senioren wird auf Augenhöhe begegnet. Wir bevormunden sie nicht, sie können selbst für sich entscheiden.»

Wichtigere Rolle denn je
Jene Seniorinnen und Senioren, welche heutzutage in ein Altersheim kommen, sind im Schnitt älter als früher. Dies hängt Claudia Bircher zufolge damit zusammen, dass die Menschen heute allgemein älter werden, aber auch damit, dass sie oft länger zu Hause von ihren Kindern oder der Spitex gepflegt werden. Hinzu kommt, dass man heute bis ins höhere Alter noch fitter ist als früher. Deshalb sind die Altersheimbewohner/innen von heute im Schnitt pflegebedürftiger – was die Aktivierung umso wichtiger macht. Aus diesem Grund bietet das Maison Claudine Pereira ab nächstem Jahr eine zusätzliche Lehrstelle für eine Fachangestellte Betreuung Menschen im Alter an. Laut Geschäftsführer André Streit soll sie eine Ergänzung und Verbesserung des Angebotes in diesem Bereich ermöglichen und gleichzeitig eine attraktive Lehrstelle schaffen.

Die Mission von Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten gewinnt also zunehmend an Bedeutung. Claudia Bircher bringt die Aufgabe dieses Berufes auf den Punkt: «Hinhören, dasein, Empathie zeigen, Herz zeigen – offen sein für alles, was kommt.» Und so spricht sie nicht einfach von einem Beruf, sondern einer zutiefst menschlichen Berufung: «Wenn ich einen Mitmenschen neben mir habe, dann gebe ich ihm einfach alles, was ich habe, um zu erreichen, dass es ihm besser geht.»


AKTIVIERUNGSTHERAPIE: EINE BEGRIFFSDEFINITION

Die sogenannte Aktivierungstherapie hat zum Ziel, Lebensfreude und -sinn im Leben der Seniorinnen und Senioren durch deren Begleitung und Motivierung zu ihrer Alltagsgestaltung aufrechtzuerhalten. Unterschiedliche Programmpunkte sowie Einzelgespräche, welche den Altersheimbewohnern/innen angeboten werden, sollen deren individuellen Interessen und Ressourcen erhalten und fördern. Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Lebensqualität bleiben so durch das Erleben von Selbstwirksamkeit auch in hohem Alter und fernab des vom früher gewohnten Alltags bestehen.


KURZINTERVIEW MIT DANIELA CHEVALLEY

Daniela Chevalley, was erleben Sie Positives als Aktivierungstherapeutin?
Ich finde es sehr schön, dass die Bewohnerinnen und Bewohner es immer sagen, wenn sie Freude haben. Es kommt sehr viel von ihnen zurück und dies bei ganz unterschiedlichen Aktivitäten. Gerade wenn sie normalerweise nicht so oft Besuch bekommen, sind sie sehr dankbar dafür, dass etwas läuft und sich jemand Zeit für sie nimmt. So wird ihr Alltag kurzweiliger. Und wenn ich beispielsweise eine Dekoration aufgestellt habe, kommen die Seniorinnen und Senioren auch auf mich zu und sagen mir, wie schön sie diese finden. Das macht mir dann selber Freude – wodurch ich auch motiviert bin, noch mehr für meine Arbeit zu geben.

Welche Aspekte Ihrer Arbeit fordern Sie heraus?
Immer wieder Ideen zu suchen, was ich noch mit den Seniorinnen und Senioren machen könnte. Manchmal surfe ich deshalb auch im Internet. Jetzt haben wir gerade eine neue Aktivierungstherapeutin aufgenommen im Team, diese sprudelt nur so vor Ideen – das ist sehr schön. Auch die Seniorinnen und Senioren bringen manchmal Ideen. Ein Heimbewohner ist einmal zu mir gekommen, nachdem er den Pingpongtisch hinter dem Haus entdeckt hatte und fragte mich, ob ich mit ihm spielen würde. Wenn es irgendwie möglich ist, versuchen wir wirklich, diese Wünsche umzusetzen. Zum Teil gehe auch ich auf die Seniorinnen und Senioren zu, beispielsweise um zu fragen, was der persönliche Lieblingskuchen ist und ob wir den gemeinsam backen wollen. Manchmal ist es noch schwierig zu spüren, was die Altersheimbewohnerinnen und Altersheimbewohner brauchen: Wenn jemand nicht so viel Energie hat, verträgt es dann trotzdem ein Gespräch oder ist das zu viel? Dies abzuschätzen, ist manchmal nicht so einfach.

Was sind für Sie die schönsten Momente?
Bestimmt diese bereits erwähnte Freude, welche die Bewohnerinnen und Bewohner daran haben, etwas zu unternehmen. Ihre leuchtenden Augen, nachdem sie ein Projekt abschliessen konnten. Einmal haben wir beispielsweise gemeinsam Cupholder gestrickt (der AvS hat darüber berichtet/Anm. der Redaktion) und dann das Paket alle gemeinsam zur Post gebracht. Wir haben alles bis zum Schluss gemeinsam gemacht. Durch solche Programme haben die Seniorinnen und Senioren wieder Ziele in ihrem Leben. Beim Stricken der Cupholder sind sie regelrecht in ein Fieber gekommen und haben fast Tag und Nacht so viel gestrickt wie möglich! Wenn man so etwas erleben darf, ist das etwas ganz Besonderes.


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