Raum für Respekt – Raum für Kunst

  23.10.2020 Saanen, Kunst

Vor rund einer Woche fand die Vernissage der Kunstausstellung «Mental Health Art in Progress» im Pop-up-Hotel Sun&Soul statt. Es handelt sich um einen vierwöchigen, unkonventionellen Anlass: Kunstschaffende mit Erfahrungen in der psychiatrischen Institution Waldau stellen ihre Werke im ausgedienten Hallenbad aus.

NADINE HAGER
Die «geplättelten» Wände des Innenbads im Sun&Soul sind weiss – doch ab und an durchbricht ein farbenfrohes Muster diese Einförmigkeit. Seit vergangenem Samstag finden sich an diesen Wänden mindestens ebenso bunte Kunstwerke. Mit einer fröhlichen Rede am Poolrand eröffnete Carlo Imboden, Präsident des Vereins Kunstwerkstatt Waldau, die Ausstellung «Mental Health Art in Progress». Der Sänger aus der Weltmusikband «Tächa», Ueli von Allmen, heizte gleich im Anschluss die Stimmung der Anwesenden auf – ebenfalls vom Poolrand aus. Das besondere Hallenbadambiente passt wie die Faust aufs Auge zu dieser etwas anderen Ausstellung ... wo auch der gemeinsame Hintergrund der Kunstschaffenden, namentlich einem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Waldau, respektvollen Raum erhält.

Zum kreativen Schaffen berufen
«Sie sehen hier sehr individuelle Kunst», leitete Carlo Imboden in seiner Rede ein. «Jeder unserer Kunstschaffenden hat eine ganz persönliche, unverwechselbare Handschrift.» Das ist nicht übertrieben: Mit Farbe oder ohne, drei- oder zweidimensional, von klein bis gross – die ausgestellten Malereien und Figürchen sind so unterschiedlich wie die Erfahrungen und Emotionen der Künstlerinnen und Künstler selbst. Diese Vielfalt hat nur einen gemeinsamen Nenner: die Erfahrung eines stationären Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik Waldau, welche alle ausstellenden Künstler/innen teilen. Der Verein Kunstwerkstatt Waldau vereint diese Kunstschaffenden.

«Malen ist eine therapeutische Massnahme, weil es beruhigend wirkt», erklärt Carlo Imboden im Interview. «Alle werden während ihres Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik damit konfrontiert.» Und wenn sie täglich malen müssten, könne es sein, dass der eine oder die andere auf einmal ein Talent entdecke und darin seine Berufung finde. «Für manche wird das kreative Arbeiten während ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie Waldau zum Lebenssinn. Aber dann werden sie entlassen – und wenn sie draussen sind, fällt das weg», so Imboden. Genau hierin besteht die Mission der Kunstwerkstatt Waldau: Sie stellt den Künstler/innen im Anschluss an ihren Aufenthalt Räumlichkeiten und Material, aber auch Ausstellungsmöglichkeiten rund um die Welt zur Verfügung. Auf diese Weise muss die künstlerische Leidenschaft mit dem Wegfallen der Maltherapiestunden nicht an den Nagel gehängt werden. Das beste Beispiel für diese Förderung ist die derzeitige Ausstellung im Hotel Sun&Soul Panorama Pop-up Hotel Solsana.

«In Progress»
Während einem Monat werden die Werke der Kunstschaffenden dort nicht nur zu betrachten und erwerben sein – für Besuchende bietet sich obendrein die Möglichkeit, einigen Künstlerinnen und Künstlern direkt bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. «Mental Health Art in Progress» erhält damit eine doppelte Bedeutung. Während die Künstler/ innen im ausgedienten Hallenbad ihrer Leidenschaft nachgehen und fortlaufend neue kreative Produkte erschaffen, machen sie Fortschritte in der Verarbeitung ihrer Emotionen – und bauen zugleich die Ausstellung aus, welche sich somit fortlaufend entwickelt.

Unkonventionelle Location
Das Hotel Sun&Soul steht den Künstlerinnen und Künstlern während den Ausstellungswochen unentgeltlich für Kost und Logis zur Verfügung. Die Gebrüder Nik und Simon Buchs, Pächter des Hotels, offerieren der Kunstwerkstatt Waldau Zimmer, Essen sowie Räumlichkeiten für Ausstellung und Arbeitsplätze. Dies soll nicht nur die Zwischensaison beleben, sondern insbesondere den Kunstschaffenden eine Unterstützung sein, so Nik Buchs: «Künstler haben es zurzeit schwer – mein Bruder und ich können dies nachvollziehen, da wir in einer künstlerisch tätigen Familie aufgewachsen sind.» Ihr grösster Wunsch sei es deshalb, Künstler/innen etwas zurückzugeben.

Und so ist es gekommen: Besuchende schreiten über die langgezogenen «geplättelten» Stufen mit blauem Rand ins trockengelegte Becken des Sun&Soul hinab; und die typischen Bahnen am Poolboden mit verspielten Kachelmuster in Gelb oder Rot an den Wänden verbinden sich mit den Ausstellungsstücken, die verschiedener nicht sein könnten. Sie alle sind emotionale Spiegel von Künstler/innen, welche eine besondere Erfahrung teilen.

Authentisch ausleben
«Kunstschaffende mit Erfahrung in psychiatrischen Institutionen». Das ist ein schöner Ausdruck – trotzdem vermag er nicht zu kaschieren, dass die Psychiatrie in unserer Gesellschaft Unsicherheiten auslöst. Dementsprechend mutig sind jene Künstlerinnen und Künstler, welche sich mit ihrem richtigen Namen in dieser Ausstellung zeigen. Lechi Abaev ist einer von ihnen. In den beiden Tschetschenienkriegen leistete er Widerstand mit seiner Kunst – bis er gefangen genommen wurde. Man folterte ihn, bis er auf einem Auge erblindete und der Arm, mit dem er malte, gelähmt war. Alle seine Kunstwerke wurden verbrannt. Nach vier Jahren Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Waldau hat er zum Malen zurückgefunden und arbeitet heute jeden Tag an seinen Bildern.

Nach ihrem stationären Aufenthalt haben diese Menschen ein Stück gesellschaftliche Achtung verloren – aber einen leidenschaftlich freudigen Teil von sich wiedergewonnen. Die Künstlerin Caroline Mas erklärt: «Zu Beginn verabscheute ich die Maltheraphiestunden. Doch eines Tages setzte ich mich hin und kreierte irgendetwas ohne Vorgaben – plötzlich war da Freude. Ich hatte dieses Gefühl so lange nicht mehr gespürt, dass ich es kaum wiedererkannte.» Ihr Künstlerkollege Mario Genta fügt bestätigend hinzu: «Malen ist Freiheit. Wir können uns damit komplett verwirklichen.»

Raum schaffen
Der Hintergrund jedes einzelnen Ausstellenden ist anders – und scheint diese immer auf dieselbe Weise von «den Normalen» zu distanzieren. Wie wichtig sind also diese Geschichten, welche nur zu einer Trennung beizutragen scheinen?

Mit ihrem Schaffen machen sich die Künstlerinnen und Künstler. verletzlich. Sie zeigen, wer sie sind, was sie denken und geben ihren Hintergrund preis. Das braucht Mut – doch dieser wird mit Respekt belohnt, so Künstler Mario Genta. «Hier dürfen wir uns selbst sein.» Von den Besucher/innen der Ausstellung werden die Kunstschaffenden nicht belächelt, nicht auf ihre «psychiatrische Erfahrung» reduziert, sondern als ebenbürtig angesehen. Die Ausstellung «Mental Health Art in Progress» bietet somit viel mehr als einfachen Raum für Ästhetik. Sie schafft Respekt für jene Künstlerinnen und Künstler, welche zurück ins Leben gefunden haben, welche eine Leidenschaft und eine Mission für sich entdeckt haben – und sich für diese «outen».


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