«Nicht alle ‹Notfälle› waren medizinischer Natur …»

  30.04.2021 Interview, Gesundheitswesen

Vor mehr als einem Jahr haben Marianne und Aldo Kropf ihre Apotheke an die Familie Bähler verkauft. Bis Ende 2020 leitete Marianne Kropf die Apotheke. Knapp 30 Jahre lang hat sie darin unzählige Menschen aus nah und fern beraten, viel ihrer Freizeit hineininvestiert, die Apotheke geliebt … und manchmal auch ein bisschen verwünscht.

SONJA WOLF

War es schon immer Ihr Traum gewesen, eine Apotheke zu führen?
Nicht direkt. Aber mein Mann und ich wollten einfach gerne etwas zusammen machen. Wir sind beide Apotheker, aber mit unterschiedlichen Prioritäten im Berufsalltag. Für meinen Mann war die Herstellung von Medikamenten das Ziel, für mich eher die direkte Kundenbetreuung. Dann ergab sich die Gelegenheit, hier in Gstaad die Apotheke mit einem Laboratorium zu übernehmen. Das war natürlich ideal für uns.

Wer führte die Apotheke vorher?
Annemarie Birnstiel, eine Frau mit einem grossen Herz für das Dorf und viel sozialem Engagement. Sie arbeitete während vieler Jahre in dieser Apotheke – zuerst zusammen mit ihrem Bruder, der die Apotheke vom Vater, Dr. Walter Birnstiel, übernommen hatte. Als sie sich vom Arbeitsalltag zurückziehen wollte, suchte sie ausdrücklich nach einem Ehepaar mit Kindern, welches sich hier niederlässt und Apotheke und Laboratorium auf längere Zeit führen würde. So sind wir 1991 hierher nach Gstaad gekommen.

Was war das für ein Laboratorium?
Das Laboratorium befand sich damals im alten Postlabor, einem Hinteranbau von «Chopard», heute befindet es sich im Keller der Apotheke. Schon unsere Vorgänger haben dort pharmazeutische Produkte hergestellt, die man in der ganzen Schweiz kaufen konnte.

Ist das heute nicht mehr möglich?
Doch, natürlich. Einfach werden die meisten sogenannten «Hausspezialitäten» einzelner Apotheken nicht mehr schweizweit vertrieben, weil genau definierte wissenschaftliche Studien die Voraussetzung wären. Das ist zu viel Aufwand für die relativ kleinen Produktmengen, die wir herstellen. Aber Hausspezialitäten dürfen nach wie vor im eigenen Geschäft angeboten werden. Mein Mann engagiert sich auch immer noch für das Labor und die Produktion.

Welches waren denn in den knapp 30 Jahren die Klassiker unter Ihren Hausspezialitäten?
Unser Klassiker war und ist die Riccovitan Wundsalbe. In der Geburtsabteilung des ehemaligen Spitals Saanen wurde zum Beispiel allen jungen Müttern die Salbe empfohlen. Sie war Standard im Saanenland, einfach in jedem Haushalt vorhanden. Heute werden weniger Salben in der Wundbehandlung verwendet, aber viele Leute hier kennen und schätzen die Creme noch. Selbst Tierärzte benutzen sie für Kühe und Pferde (lacht).

Hatten Sie noch andere derartige Wunderheilmittel?
Ja, es existierte noch Frigoplasma, eine Lehmpaste mit ätherischen Ölen, die man bei Sportverletzungen und Angina anwenden konnte. Das schien sehr wohltuend zu sein, wird aber seit etwa 15 Jahren nicht mehr hergestellt. Es kommen aber immer noch Anfragen, auch aus dem Ausland, was uns sehr rührt.

Die Herstellung der Medikamente war ja das Ursprungshandwerk des Apothekers. Aber längst nicht alle Apotheken haben ein angeschlossenes Labor. Auch bei Ihnen ist ja der Vertrieb der Hausspezialitäten inzwischen nur ein kleiner Teilbereich. Was sind denn heute die zentralen Aufgaben einer Apothekerin?
Das hat sich in den 30 Jahren, während ich in dieser Apotheke tätig war, stark verändert: Eine Zeit lang war die Apothekerin nur diejenige, die ein Rezept in Empfang nahm und das entsprechende Medikament herausgab. Das hat sich aber stark gewandelt: Die Apotheke ist zu einer niederschwelligen Anlaufstelle bei gesundheitlichen Problemen geworden. Denken Sie einmal an die ganzen Feriengäste hier: Die gehen nicht gleich zum Arzt, wenn es ihnen während der Ferien mal schlecht geht. Aber auch die einheimische Bevölkerung nutzt gerne die Dienstleistungen der Apotheke wie Wundversorgung, Blutdruckmessungen, Impfungen, Spreissel oder Zecken entfernen usw.

Aber als Hauptaufgabe der heutigen Apotheken sehe ich die Beratung und Betreuung der Kunden. Wichtig ist, den Patienten empathisch zu erklären, wie und warum sie ihre Medikamente richtig einnehmen.

Werden auch noch Medikamente hergestellt?
Natürlich spielt auch die Herstellung noch eine Rolle: Da müssen individuelle Rezepturen zubereitet werden: zum Beispiel spezielle dermatologische Hautsalben, die es in der erforderlichen Zusammensetzung nicht gibt oder Medikamente für Säuglinge oder Kleinkinder, falls die gewünschte Dosierung im Handel nicht erhältlich ist.

Haben Sie Ihr frei verkäufliches Sortiment im Lauf der Jahre an die Bedürfnisse Ihrer Kunden angepasst?
Ja, sicher. Lesebrillen sind ein Beispiel. Natürlich gibt es Lesebrillen auch beim Optiker oder auch in jedem Supermarkt. Aber an Feiertagen, wenn wir Pikettdienst hatten, riefen die Gäste auch wegen solcher Artikel an. Nicht alle «Notfälle» waren medizinischer Natur ...

Was brauchten die Kunden denn noch dringend ausserhalb der Öffnungszeiten?
Mehr als Sie glauben! Der Pikettdienst, zu dem die Apotheken verpflichtet sind, war in der Hochsaison schon sehr anstrengend: Manchmal war man gerade wieder daheim, da kam schon der nächste Anruf. Gerade die Leute aus den 5-Sterne-Hotels hatten teilweise «dringende» Wünsche, die der Concierge des Hotels dann an uns herangetragen hat, weil kein anderes Geschäft erreichbar war. Das konnte dann schon einmal eine einfache Sonnencreme oder ein Haarspray sein. Einmal erhielten wir spätabends eine Anfrage, ob wir schwarze Damenstrümpfe am Lager hätten… Aber auch ein Nuggi kann manchmal ein Notfall sein ...

Hat Ihr Familienleben unter den häufigen Pikettdiensten gelitten?
Ja und nein. Unsere drei Kinder sind nie zu kurz gekommen, allerdings greift das Apothekerinnendasein schon stark ins Privatleben ein. Die Ferienplanung war zum Beispiel kompliziert: Zur Hauptsaison konnten wir nie fort, auch zwei Wochen Ferien am Stück waren nur schwer realisierbar. Die Kinder haben die Apotheke deshalb oft als Spassbremse angesehen ...

… und wollten deshalb die Apotheke auch nicht übernehmen?
Das kann man so sagen (schmunzelt). Gerade die beiden älteren Jungs haben, als sie noch jünger waren und oft in der Apotheke mit dabei waren, manchmal ein bisschen provoziert, um auszutesten: Zu wem rennt das Mami jetzt, zu den Kindern oder zur Kundschaft? Oder der Kinderspruch «Ich will nicht gut sein in der Schule, sonst muss ich in den Gymer und dann die Apotheke übernehmen.» (lacht)

Wie haben Sie Beruf und Privatleben unter einen Hut gebracht?
Mein ursprünglicher Wunsch war gewesen, nur 60 Prozent zu arbeiten und die Geschäftsführung und die Kinderbetreuung mit meinem Mann Aldo zu teilen. Das ging am Anfang auch gut so. Aber dann hat Aldo viele zusätzliche Engagements angenommen nebst den Vorlesungen an der Uni Basel. Da musste ich dann irgendwann die Geschäftsführung alleine übernehmen und habe schon bald 100 Prozent und mehr gearbeitet. Die Kinder hatte ich oft mit in der Apotheke. Generell habe ich sehr viel gearbeitet, manchmal 14 Tage am Stück – ohne freien Tag. Leute treffen, ausgehen, Einladungen … meine eigene Freizeit ist da natürlich zu kurz gekommen. Es war herausfordernd, aber auch bereichernd

Ihre Freizeit können Sie in Zukunft ja nachholen …
Genau. Es war zwar noch viel zu ordnen und aufzuarbeiten in diesem ersten Jahr nach der Übergabe; bis Ende 2020 hatte ich ja immer noch die Betriebsleitung der Apotheke inne. Aber jetzt freue ich mich sehr über meine Freizeit. Meinem Beruf bleibe ich durch verschiedene Tätigkeiten weiterhin verbunden: Ich engagiere mich bei den Lehrabschlussprüfungen der Pharma-Assistentinnen und führe Inspektionen in Apotheken im Auftrag des Kantons durch. Im Moment helfe ich im Impfzentrum Thun mit, die Bevölkerung gegen Covid 19 zu impfen.

Woran erinnern Sie sich am liebsten aus diesen knapp 30 Jahren Apotheken-Zeit in Gstaad?
An das grosse Vertrauen der Bevölkerung, sowohl der Einheimischen als auch der Feriengäste. Es war schon berührend, wenn zum Beispiel Feriengäste bei uns in der Apotheke zur Begrüssung vorbeikamen, sobald sie in Gstaad angekommen waren und sich vor ihrer Abreise auch wieder verabschiedeten. Manche schrieben uns Weihnachtskärtli oder riefen uns aus dem Ausland an, um eine Beratung zu erhalten. Es war eine wirklich schöne, erfüllte Zeit.


ZUR PERSON

Die 64-jährige Marianne Kropf kommt ursprünglich aus Muri/Bern und ist mit dem Basler Aldo Kropf verheiratet. Das Paar hat drei erwachsene Kinder, die heute in Bern wohnen. Marianne Kropf ist seit 1982 Apothekerin. 1991 hat sie sich mit ihrer Familie in Gstaad niedergelassen, wo sie knapp 30 Jahre lang die Apotheke «Dr. Kropf» geführt hat. Ende 2020 hat sie die Betriebsleitung an Andrea Bähler übergeben. Seit Januar 2021 ist sie pensioniert und freut sich bereits, nun mehr Zeit zum Reisen, Lesen, Kochen und für den Garten zu haben.

SONJA WOLF


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