Auf in den Festivalsommer!

  09.07.2021 Interview, Musik

Ab dem 16. Juli hängt der Himmel unserer Region wieder voller Geigen – und vieler weiterer Instrumente … Welche Freude, nach einschneidenden Entbehrungen dürfen unsere Sinne nun ganz direkt angeregt werden! Artistic Director Christoph Müller und Geschäftsführer Lukas Wittermann geben vertiefte Einblicke.

ÇETIN KÖKSAL

London, das Thema dieser 65. Ausgabe des Gstaad Menuhin Festivals, war der wichtigste Dreh- und Angelpunkt von Yehudi Menuhin. Seit seiner Gründung 1957 ist das Festival beständig gewachsen und hat sich zu einem der grössten Klassikfestivals der Schweiz entwickelt. Welche Bedeutung hat der Mitgründer Yehudi Menuhin heute noch für diese Institution?
Christoph Müller (CM):
Yehudi Menuhin spielt für uns auch 22 Jahre nach seinem Tod noch eine wichtige Rolle. Die Konzeption des Kammermusikfests, unsere gewichtige Nachwuchsförderung sowohl im Bereich der Konzerte als auch in den Fortbildungsmöglichkeiten im Rahmen der Gstaad Menuhin Academies oder auch die regelmässige Zusammenarbeit mit seinen gegründeten Partnerinstitutionen orientieren sich an ihm. Zudem versuchen wir dem Erbe dieses Humanisten mit offenem Geist mit stilübergreifenden Konzerten wie auch einem Angebot für begeisterte Amateure und Kinder gerecht zu werden. Ich versuche in allen Gesamtplanungen immer auch ein «Menuhin-Fenster» einzubauen. Im Sommer 2019 rund um «Paris» waren dies Konzerte mit Musik von George Enescu, einem der wichtigsten Lehrer von Yehudi Menuhin, oder dieses Jahr seine Beziehungen zu Benjamin Britten und Edvard Elgar.

Das Discovery-Programm richtet sich mit einem bunten Strauss von Angeboten an Kinder und Jugendliche. Worauf darf sich die junge Generation dieses Jahr speziell freuen?
Lukas Wittermann (LW):
Spontan empfehle ich für die Vier- bis Sechsjährigen «Paddington macht einen Ausflug» aus dem Atelier Gwunderkind am 25. Juli. Für die Sieben- bis Zwölfjährigen «Bilder einer Ausstellung» am 17. Juli oder auch «Trompetissimo!» und für die Jugendlichen natürlich «Teens go concert», wo sie Spannendes und Interessantes vor dem Konzert hinter den Kulissen erfahren.

Manche Eltern, Göttis oder Tanten möchten vielleicht gerne ihrem Schützling ein Discovery-Erlebnis ermöglichen, haben aber etwas Hemmungen, weil sie selbst keinen grossen Bezug zu klassischer Musik haben. Wie ermutigen Sie sie dazu, den Schritt doch zu wagen und über ihren Schatten zu springen?
LW:
Einfach kommen, keine Vorurteile haben und sich auf das Neue freuen! Ich habe auch schon Discovery-Anlässe mit meinem kleinen Sohn besucht und durfte beobachten, wie unkompliziert, aufgeschlossen und neugierig die Kleinen waren. Kinder haben viel weniger Berührungsängste als wir Erwachsene. Es lohnt sich auf jeden Fall, einen Versuch zu wagen!

Von fast 60 Konzerten sind bereits jetzt zehn ausgebucht und für einige der noch verbleibenden sind nur noch wenige Tickets verfügbar. Haben Sie mit dieser Nachfrage gerechnet?
CM:
Wir konnten es überhaupt nicht einschätzen, als wir das Programm im Februar lancierten. Einerseits fragten wir uns natürlich schon, ob es die Konzertbesucher bereits im Sommer 2021 wieder «wagen» würden, reale Konzerte zu besuchen. Andererseits versuchten wir mit Gstaad Digital Festival das Interesse auch während des Lockdowns wachzuhalten und die Leute wieder «gluschtig» auf Livekonzerte zu machen. Der erfreuliche Ticketverkauf bestätigt nun diese Strategie. Dazu muss aber auch gesagt werden, dass das Urprinzip der Marktwirtschaft hier greift: Durch die maximale Belegung von 50 Prozent haben wir ein vermindertes Angebot an Plätzen dieses Jahr. Dadurch steigt auch die Nachfrage und Konzerte sind früher ausverkauft als in einem «normalen» Jahr.

Wie schwierig gestaltete sich die Planung des diesjährigen Festivals im Vergleich zu solchen in «normalen» Jahren?
LW:
Alles war wirklich bedeutend aufwendiger. Wir bildeten eine Gruppe für alle wichtigen strategischen Überlegungen, die inzwischen über 20 Sitzungen abgehalten hat. Für jede vorstellbare Pandemieentwicklung haben wir verschiedene Szenarien geplant. Auf unzählige Fragen mussten wir Antworten erarbeiten.
CM: Auf künstlerischer Seite spielen natürlich die Reisebeschränkungen eine gewichtige Rolle. Können die angekündigten Musikerinnen und Musiker überhaupt einreisen? Zudem werden die Engagements normalerweise ja bereits ca. zwei bis drei Jahre im Voraus festgelegt. Da das letzte Jahr quasi «ausgefallen» ist und viele der anderswo geplanten Konzerte auf dieses Jahr verschoben worden sind, kann es passieren, dass ein Künstler plötzlich nicht mehr frei ist. Das führt zu kurzfristigen Besetzungswechseln. Die Corona-Zeit hat uns gelehrt, in anderen Zeithorizonten zu planen und zu entscheiden, und wir mussten lernen, mit der Ungewissheit umzugehen.

Ein durchdachtes Sicherheitskonzept soll einen möglichst sicheren und verantwortungsvollen Konzertbesuch gewährleisten. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Stadien mit Zehntausenden von Fans sehen?
CM:
Es irritiert mich schon etwas, wenn ich die vollen Fussballstadien sehe. Es bleibt zu hoffen, dass die Veranstalter und die Uefa die drei Gs – geimpft, genesen, getestet – konsequent eingehalten haben, obwohl ich da gewisse Zweifel habe, ob dies in der Praxis bei diesen Mengen an Zuschauern wirklich machbar ist.
LW: Sollte es sich um eine fahrlässige Freiheit handeln, werden wir alle wiederum die Konsequenzen zu tragen haben. Deshalb betone ich hier noch einmal, wie wichtig uns die Sicherheit unserer Konzertbesucher ist. Ich erlaube mir folgenden Appell: Besuchen Sie kurz vor dem Konzert unbedingt nochmals unsere Homepage! Dann sind Sie auf dem neusten Stand. Unser Sicherheitskonzept wird laufend den aktuellen Bedingungen angepasst.

Wie bereits erwähnt, wird die Sitzkapazität der Konzertorte maximal zur Hälfte ausgeschöpft, damit genügend Abstand zwischen den Zuschauern besteht. Das bedeutet auch bis zu 50 Prozent weniger Einnahmen aus Ticketverkäufen. Wie schmerzhaft sind diese Einbussen für die Finanzen des Festivals?
LW:
Selbstverständlich haben wir bei der Strategieplanung diesen Posten entsprechend angepasst, sodass unser Budget im Lot bleibt. Die bei Notwendigkeit einforderbaren Ausfallentschädigungen helfen dabei als Rückversicherung.

Ein paar Konzerte wie beispielsweise das Rezital von Maria João Pires werden in zwei «Sitzungen» um 18 und 20.30 Uhr durchgeführt, um mehr Besuchern das Konzerterlebnis zu ermöglichen. Erhält Frau Pires nun zweimal ihre Gage – sie spielt ja auch zwei Konzerte nacheinander?
CM:
Nein, diese Künstler erhalten eine übliche Konzertgage, obwohl sie faktisch zwei Konzerte spielen. Dafür ist die Dauer eines Konzerts verkürzt. Auf jeden Fall ist es auffallend, wie hilfsbereit viele der Musikerinnen und Musiker sind, um auf diese Weise das Konzert zu retten und uns Veranstaltern doch eine genügend hohe Zahl von Besuchern zu ermöglichen.

Am 8. August spielt das Kammerorchester Basel unter anderem die Auftragskomposition «Over the sea – shanty songs for string orchestra» von Thomas Adès. Auftragskompositionen sind seit vielen Jahren zu einer Tradition des Festivals geworden. Wie darf man sich den Prozess – ganz praktisch – vom Auftrag bis zur Uraufführung vorstellen?
CM:
Nun, der Auftraggeber gibt dem Komponisten die gewünschte Besetzung – Streichorchester, Solostück, Symphonieorchester, Quartett, Oper usw.) – und die gewünschte Dauer bekannt und überweist ihm eine Anzahlung. Je länger das Werk dauern und je grösser die Besetzung sein soll, desto teurer wird natürlich der Auftrag. Bei Überreichung der fertiggestellten Partitur wird dann der Restbetrag überwiesen. Ich habe Thomas Adès seit einem Weilchen immer wieder davon zu überzeugen versucht, für uns etwas zu komponieren. Immerhin ist er der zeitgenössische britische Komponist. Umso glücklicher bin ich nun, dass es jetzt geklappt hat! Übrigens ist es reiner Zufall, dass sein neues Stück sich mit den Matrosenliedern, den Shanty-Songs, beschäftigt und dass seit letztem Herbst der Shanty-Song «Wellerman» von Nathan Evans viral durch die Decke geht. Vielleicht eine Fügung des Schicksals für ein positives Festival 2021?


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