Ein nationaler Denksport

  02.07.2021 Sport, Kultur, Schweiz, Serie

Ich startete meinen nächsten Tauchgang in die hiesigen Traditionen und Besonderheiten: Was machen die Schweizer eigentlich, wenn sie abends gemütlich zusammensitzen? «Jassen», liess ich mir sagen. Doch von «gemütlich» kann hier keine Rede sein. In einem Anfängerkurs entpuppte sich das Kartenspiel als wahrer Denksport.

SOPHIA GRASSER
In meiner Heimat Bayern ist es das Schafkopfen, in der Schweiz das Jassen – traditionelle Kartenspiele, von denen ich weder das eine noch das andere beherrsche. Vor meinem Umzug in das Saanenland war mir Letzteres noch nicht mal ein Begriff. Ich verstehe etwas von UNO oder Schwarzem Peter. Zugegeben: Viel Geschick bedürfen die beiden Klassiker nicht. Doch mein Pokerface, das ich beim Schwarzen Peter trainiert hatte, sollte noch von grossem Nutzen sein.

Im Schulhaus Grund angekommen, senke ich den Altersdurchschnitt der Gruppe massgeblich. «Beim Jassen handelt es sich also um ein generationsübergreifendes Kartenspiel», betrachte ich es positiv. Eine kleine Anekdote der Kursleiterin Bethli Küng bricht das Eis: In der Primarschule war sie ihren Klassenkameraden im Rechnen weit voraus, ihre Lehrerin habe grosse Augen gemacht. Stolz erzählt sie, dass sie ihre Rechenkünste dem Jassen zu verdanken hat. Auch das Gedächtnis und das logische Denken werden bei dem traditionellen Kartenspiel gefordert und gefördert. Oh je, das klingt nach einer Herausforderung – Mathematik zählte noch nie zu meinen Stärken. Doch ich lasse mir meine gute Laune nicht verderben – und als junge Studentin müsste ich meinen reifen Mitspielerinnen und Mitspielern gegenüber doch einen Vorsprung haben.

Nach der kurzen Begrüssung teilen Bethli Küng und Dori Kernen jedem Kursteilnehmer eine Spielanleitung aus. Auf die anschliessende Frage, ob man mit den Jassregeln bereits vertraut sei, folgt ein mehrheitliches Nicken. Es stellt sich heraus, dass die meisten Teilnehmer bereits vor einigen Jahren in die Kunst des Jassens eingeführt wurden und den Kurs in erster Linie zur Auffrischung besuchen. Nur eine Mitspielerin scheint ebenso ahnungslos wie ich. Bethli Küng sind unsere stummen Hilferufe nicht entgangen. Es gibt keinen Grund zur Sorge: Sie würde uns an die Hand nehmen.

Die acht Kursteilnehmenden teilen sich auf die zwei Tische auf, eine Schreibtafel und die Karten liegen bereits parat. «Die beiden Spieler, die sich diagonal gegenübersitzen, bilden ein Team», beginnt Bethli Küng. Damit wird eben erwähnte Kameradin zu meiner Gegnerin, die Konstellation verspricht ein faires Spiel. Wir begrenzen eine Partie auf 1000 Punkte. 1000 Punkte? «Das klingt nach einer langen Nacht», ist mein erster Gedanke. Doch ganz im Gegenteil: Unsere gemütliche Runde hatte so viel Spass, dass die Zeit wie im Flug verging.

Bethli Küngs Anleitung beginnt mit einem Sprung ins kalte Wasser. Jeder Spieler erhält neun Karten. Ich beobachte die Spielzüge der anderen Teilnehmerinnen und schiele auf die Anleitung, die uns die Kursleiterinnen zu Beginn ausgeteilt haben. Der Erstspielende der Runde wählt einen Trumpf oder schiebt die Wahl seinem Partner zu – Herz, Schaufel, Ecke oder Kreuz. In der Regel spielt er seine stärkste Trumpfkarte zum ersten Stich aus. So weit, so gut. Bethli Küng kommt mir zu Hilfe, als ich am Zug bin. Ich schlage ihr eine Karte vor, die ich auf der Hand halte, und sie bestärkt mich oder rät mir zu einem anderen Blatt. Der weitere Spielverlauf gestaltet sich ähnlich: Blauäugig verwerfe ich nach Bethli Küngs Anweisung mal stechmässig schwache, mal stechmässig starke Karten und hoffe, dass meine Anleiterin kein falsches Spiel mit mir spielt. Immerhin unterstützt sie auch unsere Gegner und sollte idealerweise unparteiisch bleiben. Als ich nach einigen Runden glaube, ein Schema zu erkennen und mir meiner Kartenauswahl immer sicherer werde, rät Bethli Küng, auch die Spielzüge meiner Mitspielerinnen im Hinterkopf zu behalten. So könne ich einschätzen, wie viele Trumpfkarten noch ausstehen. Beim Jassen handelt es sich ja um einen richtigen Denksport! Ich gebe mir Mühe, doch meine eigenen Karten bedürfen bereits meine volle Konzentration. Und damit nicht genug. Um sich und seine Gewinnchancen nicht zu verraten, sollte während der gesamten Partie – mit Ausnahme von Bethli Küngs Ratschlägen – kein Wort gesprochen und keine Miene verzogen werden. Endlich zahlt sich mein Pokerface aus.

Am Ende jeder Runde werden die Punkte gezählt und auf der Schreibtafel festgehalten. Damit löse ich auch das Rätsel um Bethli Küngs ausserordentliche Rechenkünste. Denn obwohl mein Matheunterricht noch nicht in allzu ferner Vergangenheit liegt, hat meine Anleiterin im Kopfrechnen die Nase vorn. Die höchste Stechkarte ist der Bauer des jeweiligen Trumpfs. Er hat mit 20 Punkten den höchsten Kartenwert. Die Nell, die Trumpfneun, gilt mit einem Wert von 14 Punkten als zweithöchste Stechkarte. Pro Runde können insgesamt 157 Punkte erreicht werden.

Am Ende des Abends steht es unentschieden – jedes Team hat eine Partie gewonnen. Ich bin ganz schön geschafft, meine Mitspielerinnen haben es mir nicht leicht gemacht. Nach unseren gegenseitigen Glückwünschen beschliesse ich, dieses offene Ergebnis nicht auf mir sitzen zu lassen. Gleich morgen werde ich mir meine eigenen Jasskarten kaufen und meine Kameradinnen schon bald zu einer Revanche herausfordern – eventuell auch ohne die Unterstützung unserer Kursleiterin.


ZUR SERIE

Mein Entdeckerherz schlägt höher: Seit meiner Ankunft in der Schweiz bin ich immer wieder überrascht, was das Saanenland zu bieten hat. Da ich aus der Nähe von München komme, tauche ich zum ersten Mal in die Welt aus Gipfeln, Tälern und Bergdörfern ein und lasse mir natürlich keine Gelegenheit entgehen, jede Tradition hautnah zu erleben und jeden Fleck ausgiebig zu erkunden. Ich nehme Sie mit auf meine persönliche Reise.


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