Bauten, die infolge Einsprachen verzögert und allenfalls verhindert werden

  03.12.2021 Interview, Politik, Kanton, Saanen

Einsprachen gegen Baugesuche sind ein demokratisches Mittel, um seine Rechte wahrzunehmen – und können Bauten verzögern und gegebenenfalls verhindern, auch wenn sie gesetzeskonform sind. Zwei Beispiele.

BLANCA BURRI
Mit einer Einsprache gegen einen geplanten Bau können sich Nachbarn oder Direktbetroffene zu einem Neubau äussern. Oftmals geht es dabei um das Einhalten von Grenzabständen, die Grösse eines Projekts oder die Höhe von Gebäuden und ob damit die eigene Aussicht verbaut wird. Durch Einsprachen können grössere Bauten wie der Wintercampus des Privatinstituts Le Rosey im Erli, Schönried, verhindert werden. Wie ist das bei kleineren Projekten? Von bewusster Verzögerungsund Zermürbungstaktik sprechen Einheimische, deren Projekte wegen den Nachbarn nicht zum Fliegen kamen.

Zweifamilienchalet geplant
Am Panoramaweg auf dem Oberbort in Gstaad steht ein kleines Holzchalet direkt an der Strasse. Daneben befindet sich eine Scheune, nur noch von Hühnern bewohnt. «Die Liegenschaft befindet sich in der Landwirtschaftszone, wird jedoch nicht mehr für diesen Zweck genutzt», sagt Peter Welten. Seinen Eltern gehört das Anwesen in der dritten Generation. In den vergangenen 13 Jahren haben der 35-jährige Zimmermann und seine Frau Franziska dort gelebt. Inzwischen sind sie Eltern von zwei Kleinkindern (eineinhalb und vier Jahre). Die gemütliche Dreieinhalbzimmerwohnung wurde für die Familie zu klein. Deshalb hat sie gemeinsam mit Bruder Lukas und dessen Frau Marion 2017 begonnen, einen Neubau für zwei Familien zu planen. In Absprache mit dem Kanton (AGR, Amt für Gemeinden und Raumordnung) und der Gemeinde kann das Volumen der Scheune dem grösseren Wohnhaus angerechnet werden, das damit beiden Familien Platz bieten würde. Im Gegenzug müsste die separate Scheune abgebrochen werden.

Wollte der Nachbar das Grundstück kaufen?
Am 23. Juni 2020 wurde das Bau- und Ausnahmegesuch im «Amtlichen Anzeiger Saanen» publiziert. Dagegen erhob ein Nachbar Einsprache. Die Gründe sind aus Sicht der Bauherren nicht nachvollziehbar. Es betrifft unter anderem die Wesensgleichheit in landwirtschaftlichen Zonen. Demnach darf das Wesen einer Liegenschaft in der Landwirtschaftszone nicht verändert werden. Der Einsprecher begründet im konkreten Fall, dass das Gebäudevolumen der frei stehenden Scheune beim Neubau nicht zum Haus gerechnet werden dürfe. Zur Erklärung: Bei einem Neubau ist es üblich, das Bauvolumen einer Scheune der Wohnfläche zuzurechnen, wenn Scheune und Haus zusammengebaut sind. Weil die Scheune in ihrem Fall ein paar Meter neben dem Haus steht, könnte die Rechtssprechung anders lauten, sollte der Fall vor Gericht enden, sagt Lukas Welten, der wie sein Bruder Zimmermann ist.

Der Anwalt des Einsprechers habe Familie Welten besucht, um mögliche Lösungen zu diskutieren. Dieses Gespräch sei konstruktiv und freundlich verlaufen, ebenfalls die Einspracheverhandlung. Familie Welten hat danach versucht, die diskutierten Punkte in den Plänen umzusetzen, trotzdem sei die Einsprache nicht zurückgezogen worden.

Bei einem weiteren Gespräch – diesmal mit dem Nachbarn direkt – bekam Familie Welten einen neuen Eindruck. «Aus unserer Sicht geht es dem Einsprecher nicht um den Neubau. Wir vermuten, dass er unsere Liegenschaft kaufen möchte», bemerkt Franziska Welten, «aber darauf gingen wir nicht ein.» Familie Welten bekam den Eindruck, der Nachbar sei «erstaunt» gewesen, weil sie nicht nachgefragt habe, wie viel er bieten würde. Das habe man im weiteren – nur noch kurzen – Gesprächsverlauf gespürt. Seither läuft die Kommunikation nur noch über den Anwalt des Nachbarn.

Einsprecher nimmt keine Stellung
Mit den Vorwürfen konfrontiert, schreibt der Anwalt der Einsprecher: «Meine Klientschaft äussert sich nicht zu einem hängigen Verfahren.» Es seien zahlreiche Versuche für eine Einigung mit der Bauherrschaft Welten unternommen worden. Zudem habe die Klientschaft lediglich zum publizierten Bauvorhaben gemäss den für ein solches Bauvorhaben anwendbaren verfahrensrechtlichen Vorschriften mittels einer Einsprache Stellung genommen. Der Anwalt argumentiert, die Bauverzögerung sei auf strukturelle Probleme grundsätzlicher Natur wie Überlastung der Behörden oder Regelungsdichte von Vorschriften zurückzuführen.

Zweifamilienchalet verhindert
Familie Welten lässt das Projekt ruhen und dies hat verschiedene Gründe. Der wichtigste Punkt ist, dass sich die einheimische Familie keinen Anwalt leisten könne, denn sie hat das Gefühl, ohne Anwalt keine Einigung mit dem Nachbarn finden zu können. Auch der zeitliche Aspekt spielt beim Entscheid eine Rolle. Familie Welten rechnet mit weiteren fünf Jahren Umtrieben bis zum möglichen Baubeginn und mit mehreren Tausend Franken Kosten. Das können und möchten sie nicht stemmen. Nach dreieinhalb Jahren des Planens und Kämpfens sind sie erschöpft. Das Thema bestimme und belaste ihr Privatleben. «Wir möchten deshalb die Familie nicht weiter belasten», hält Lukas Welten fest.

Familie zieht aus
Als besonders bitter empfindet die einheimische Familie, dass inzwischen in der Nachbarschaft emsig gebaut wurde. «In den dreieinhalb Jahren der Planung haben wohlhabende Nachbarn selbst ein Haus gebaut. Das macht uns extrem nachdenklich und traurig», sagt Franziska Welten. Die Gärtnerin findet es nervenzehrend, jeden Tag zusehen zu müssen, wie Häuser in die Höhe wüchsen für Familien, die in Zürich, London und Ibiza weitere Objekte hätten. «Wir haben nur dieses eine Haus und müssen ausziehen, weil es uns zu klein wird», sagt die 34-Jährige. Sie selbst hätten sich immer um eine gute Nachbarschaft bemüht und deshalb auch gegen keines der Bauprojekte in der Nachbarschaft Einsprache erhoben. «Dass wir nun so schikaniert werden, schmerzt schon sehr», sagt sie. Wenn die Kinder einmal gross sind, wollen sie und ihr Mann wieder an den Panoramaweg zurückkehren. «Dann wird die Wohnung für uns zwei wieder genug gross sein.» Obwohl sie nun aufgeben, sind sie nicht wütend auf ihren Nachbarn. Aber enttäuscht. Und ernüchtert.

Postzustellstelle geplant
Ein weiterer Bau, der durch Einsprachen verhindert worden ist, betrifft die ehemalige Schreinerei von Andreas Mösching auf der Farb in Saanen. Davon war in dieser Zeitung bereits zu lesen. Andreas Mösching wollte die Räumlichkeiten seiner ehemaligen Schreinerei nach seiner Pensionierung vermieten. Am Objekt war die Post interessiert. Für die geplante Zustellstelle wären jedoch bauliche Anpassungen nötig gewesen. Gegen das Baugesuch erhoben vier Nachbarn Einsprache. «Es ist legitim, Einsprache zu erheben», hält Andreas Mösching fest. «Aber ich finde, wenn man den klaren Entscheid der Gemeinde nicht akzeptiert und bei der Bau- und Verkehrsdirektion ohne Erfolgsaussichten Beschwerde einreicht, ist das für die Bauherren zermürbend.» Genau dies geschah in seinem Fall. Die Gemeinde erteilte die Baubewilligung zwar, aber es dauerte fünf Jahre, bis auch das Bundesgericht den Baubewilligungsentscheid bestätigte. Zwischenzeitlich hatte die Post einen anderen Standort gefunden und war abgesprungen. Das Lokal auf der Farb steht weiterhin leer. Andreas Mösching entgingen in dieser Zeit 500’000 Franken Bruttoeinnahmen und er steht wieder am Anfang des Vermietungsprozesses.

Er fragt sich, was er seinen Nachbarn in all den Jahren angetan habe, dass sie erst beim Kanton und dann beim Bund Beschwerde erhoben. Denn er kann sich nicht vorstellen, dass es nur um den Lärm geht, den Lastwagen und Autos bei der Postlogistik produziert hätten.

Wie Familie Welten hat auch er bei Bauprojekten seiner Nachbarn, die in den vergangenen fünf Jahre verwirklicht worden sind, dem Frieden zuliebe keine Einsprachen erhoben. Ein bisschen ratlos ist er auch, weil die Einsprecher eine Einspracheverhandlung kategorisch abgelehnt hätten. Umso problematischer findet er, dass gewisse Nachbarn ihre Autos auf den freien Parkplätzen seiner ehemaligen Firma abstellten, ohne ihm dafür ein Entgelt zu entrichten.

Auch ihn hat das gesamte Verfahren viele schlaflosen Nächte und Nerven gekostet. Die Sorgen werden nicht kleiner: Wenn er die Betriebshalle nicht vermieten kann, muss er das Haus aus finanziellen Gründen vielleicht veräussern. «Manchmal habe ich das Gefühl, die Nachbarn hätten Freude, wenn das passieren würde.» Das sind happige Vorwürfe. Die Einsprecher wollen auch nach mehrmaligem Nachfragen zu keinem der Punkte Stellung nehmen.

Die mit dem längeren Atem gewinnen
Zurück zum Panoramaweg. Die Bauherren geben dem Ausverkauf der Heimat schuld, dass sie nun keine Chancen sehen, den Neubau zu verwirklichen. Mit Einheimischen als Nachbarn hätte es diese Probleme nicht gegeben, sind sie überzeugt. Deshalb können sie nicht verstehen, weshalb so viele Einheimische ihre Liegenschaften an Auswärtige verkaufen. Sie vermuten, dass sie die erste Generation sind, die die Folgen nun direkt zu spüren bekommen. «Wenn der Ausverkauf der Heimat so weiter geht, werden bald nur noch die wohlhabenden Chaletgäste und ihre Bediensteten hier wohnen, weil sich die Einheimischen das Wohnen und Bauen im Saanenland nicht mehr leisten können», befürchtet Franziska Welten. «Wir sägen uns gerade den Ast ab, auf dem wir sitzen.»

Lukas und Peter Welten arbeiten beide auf dem Bau und oft für wohlhabende Auftraggeber. Ihnen ist die Gratwanderung ihrer Aussagen wegen der Abhängigkeit der Einheimischen von den Chaletgästen bewusst. Dass Wohlhabende die demokratischen Mittel jedoch bis aufs Letzte ausreizten, macht sie traurig. Es zeige auf, dass sich die Machtverhältnisse verschoben hätten. Lukas Welten: «Es geht darum, dass diejenigen mit dem längeren Atem ihre Projekte durchbringen.»


BEWILLIGUNGSVERFAHREN

I Gemeindeebene
1. Einreichung Baugesuch auf der Gemeinde 2. Publikation Baugesuch im «Amtlichen Anzeiger», Einsprachefrist von 30 Tagen 3. Prüfung der Einsprache durch Gemeinde, eventuell Einspracheverhandlung, Entscheid Baukommission, ob auf eingegangene Einsprachen eingetreten wird oder nicht 4. Baubewilligung oder Bauabschlag der Baukommission

II Kantonsebene
1. Beschwerde gegen die Baubewilligung bei der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern 2. Beurteilung der Beschwerde und Entscheid 3. Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Entscheid 4. Verwaltungsgericht beurteilt Beschwerde und fällt Urteil

III Bund
1. Bundesgerichtsbeschwerde gegen Verwaltungsgerichtsurteil
2. Urteil des Bundesgerichtes als letzte Instanz


PATRICIA MATTI, GEMEINDERÄTIN, UND MICHAEL HERRMANN, VERFAHRENSLEITER, IM INTERVIEW

Ist Bauen nur noch mit Anwalt möglich?

Der «Anzeiger von Saanen» traf Patricia Matti, Gemeinderätin, und Michael Herrmann, Verfahrensleiter, zum Gespräch und fragte nach, ob das Bauen nur noch für wohlhabende mit Anwalt möglich ist.

BLANCA BURRI

Hat eine vermögende Person mehr Möglichkeiten, gegen ein Bauprojekt vorzugehen als jemand mit einem schmalen Portemonnaie?
Patricia Matti (PM):
Eigentlich nicht. Das demokratische System ist für alle gleich.

Wenn man an die Nerven und die Zeitressourcen denkt, macht es einen Unterschied, ob ein Anwalt den Aufwand in der Arbeitszeit erledigt oder ein Handwerker nach neun Stunden auf dem Bau.
PM:
Die Einsprachemittel sind dieselben. Wenn jemand einen Bau verhindern will, weil er sich durch das Bauvorhaben gestört fühlt, macht er alles, um das zu erreichen – egal, wie viel Geld er hat.

Braucht es heute einen Anwalt, um zu bauen?
Michael Herrmann (MH):
Ein Anwalt ist nicht unbedingt nötig. Aber wenn eine Baubewilligung angefochten wird, kann es ratsam sein.
PM: Bauen ist in den vergangenen Jahren schon komplexer geworden, deshalb sind Spezialisten zu empfehlen.

Bauen ist eine emotionale Sache. Bauherren sind mit Herzblut im Projekt, es gibt familiäre Diskussionen und nachbarschaftliche Verhältnisse werden auf die Probe gestellt.
MH:
Es gibt keine Garantie, dass niemand Einsprache erhebt. Nicht einmal schriftliche Vereinbarungen oder Vermerke im Grundbuch können das verhindern. Das habe ich in meinem Berufsleben oft erfahren. Unser System erlaubt eine Einsprache während der öffentlichen Auflage. Wenn das Projekt sauber aufgegleist ist, sind Einsprachen jedoch immer nur eine Verzögerungstaktik, mehr nicht. Entweder der Bauherr beisst sich durch oder er gibt auf.

Machen Einsprachen im Saanenland Schule?
PM:
Nein. Saanen hat viel mehr Baugesuche als andere Gemeinden, aber die Einsprachen liegen auf einem durchschnittlichen Niveau.

Das heisst konkret?
MH:
Wir behandeln im Schnitt 150 Baugesuche pro Jahr. Gegen rund 30 wird Einsprache erhoben. Im Saanenland werden sie öfter von Anwälten eingereicht als anderswo.

Anwälte kennen bestimmt viele rechtliche Möglichkeiten.
MH:
Sie konzentrieren sich oft auf ein einzelnes Argument. Aber der Fall der Zustellstelle der Post auf der Farb hat gezeigt, dass dieses Argument vor Bundesgericht unterlag.

Die Verzögerungstaktik hat trotzdem funktioniert. Aber: Die Differenzen könnten in Gesprächen bereinigt werden, oder?
PM:
Grundsätzlich macht es immer Sinn, dass die Einsprecher und die Bauherren sich austauschen, da muss die Gemeinde nicht dabei sein. Man sollte bedenken, dass sich die Gemeinde als Bewilligungsbehörde überlegt, ob sich eine Einspracheverhandlung überhaupt lohnt: Dort, wo die Fronten verhärtet sind, bringt sie meist nichts. Deshalb klären wir vorher ab, ob eine Einspracheverhandlung Einigungschancen birgt. Bei der Verhandlung spürt man meist sofort, wie die Stimmung ist und ob das Gespräch zum Erfolg führt.

Wie war das im Fall Farb?
MH:
Wir wussten, dass die Fronten verhärtet sind und das Gespräch nichts bringt, deshalb haben wir zu keiner Verhandlung eingeladen.

Und im Fall Panoramaweg?
PM:
Dort haben wir einen Versuch unternommen, aber die Einsprache wurde nicht zurückgezogen, obwohl die Bauherren auf einige der Wünsche der Einsprecher eingegangen waren.

Können Sie verstehen, dass die Bauherren nun aufgeben?
MH:
Wir finden es schade, denn das Recht steht auf ihrer Seite. Die Umverteilung des Volumens der Scheune zu kompensieren ist keine Neuheit. Aus meiner Sicht schaffen sie keinen Präzedenzfall. Natürlich können die Einsprecher gegen eine allfällige Baubewilligung Beschwerde erheben und das Projekt weiter verzögern. Dagegen kann man nichts machen.

Welche Tipps geben Sie potenziellen Bauherren?
MH:
Wie erwähnt, dringend Spezialisten ins Projekt involvieren. Eine saubere Dokumentation gibt den Einsprechern weniger Kanonenfutter.
PM: Ein gutes Verhältnis in der Nachbarschaft pflegen. Sie vor der Baueingabe bereits ins Projekt involvieren, indem man es ihnen vorstellt und ihnen erklärt weshalb man bauen möchte – und wie. Denn egal, ob einheimisch oder wohlhabend: Alle Nachbarn könne einem das Leben schwer machen, denn Bauen ist wie gesagt eine emotionale Angelegenheit, da können die Wogen hochgehen.

 

 

 


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