«Vielleicht muss man sich von etwas Altem lösen und einige neue Sachen ausprobieren»
18.02.2022 Interview, TourismusIn den Dörfern Gsteig, Lauenen und Gstaad geht das Dorforganisationspräsidium in neue Hände über. Die Neuen – Michael Ming, Lauenen, Sandro Reuteler, Gstaad, und Cornelia Walker, Gsteig – sagen, weshalb es die Dorforganisationen trotz professionellem GST noch braucht.
BLANCA BURRI
Heutzutage ist es nicht so einfach, engagierte Personen für Vereinsvorstände zu finden. Was ist Ihre Motivation, treibende Kraft der Dorforganisation zu sein?
Cornelia Walker (CW): Meine Motivation kommt davon, dass wir als Team das Dorf beleben können. Es braucht jemanden, der die Fäden zusammenhält. In unserer Gemeinde darf ich das Präsidium mit der bisherigen Co-Präsidentin Andrea Kohli teilen. Das ist wertvoll.
Michael Ming (MM): Ich möchte mich als Hotelier mit dem Dorf verbinden, denn alles was wir tun, ist ein Geben und Nehmen. Wir sollten daran denken, dass Tourismus immer bei den Einheimischen beginnt: Nur wenn die Bevölkerung darauf stolz ist, was sie tut, kann Tourismus erfolgreich sein.
Sandro Reuteler (SR): Ich empfinde es als Ehre, den Weltkurort zu repräsentieren, aber ich möchte diese Position nicht überbewerten. Jemand muss halt einfach das Präsidium innehaben und die Entscheide des Gremiums nach aussen tragen, aber dahinter steckt immer ein Team.
Welche Ziele haben Sie sich für die erste Amtsdauer gesetzt?
CW: Gsteig in der Öffentlichkeit greifbar machen und das öffentliche Leben mitgestalten. Wir sind ebenso wie die anderen Dorforganisationen ein Töchterchen von Gstaad Saanenland Tourismus, also ein kleiner Teil eines Systems.
SR: Gstaad sollte sich wieder als Treffpunkt der Einheimischen etablieren. In der Hochsaison ebenso wie in der Zwischensaison. Egal, wie unsere Dörfer heissen und wie bekannt sie sind, die Einzigartigkeit jedes Dorfes soll gleich hoch gewichtet werden. Die Dörfer sollen eine Verbindung zwischen den Gästen und den Einheimischen herstellen. Das gelingt nur, wenn die Einheimischen im Dorf unterwegs sind und sich wohlfühlen. Nur dann erhalten die Gäste einen ehrlichen und bleibenden Eindruck von unserer Region.
MM: Das Jahr dauert länger als nur drei Hochsaisonmonate, in denen die Region fast aus allen Nähten platzt. Schade ist, dass sich die Einheimischen in der Hochsaison etwas zurückziehen. Dieses Ungleichgewicht wollen wir ausgleichen. Die Zwischensaison möchten wir stärken.
Haben Sie konkrete Ideen, wie Einheimische und Gäste in den Austausch kommen?
SR: Konkrete Ideen? Wenn es ein Rezept dafür gäbe, wäre es schon längst umgesetzt worden! Es ist ein Tüfteln. Früher hat das Restaurant Olden die Menschen zusammengebracht. Heute ist es schwieriger geworden. Aber gute Ansätze gibt es bereits: Der Samichlousbesuch beispielsweise ist ein Anlass, wo sich Einheimische und Gäste durchmischen und an dem alle grosse Freude haben. Mit kleinen Anlässen sind wir auf dem richtigen Weg.
MM: Die Integration der Landwirtschaft finde ich sehr wichtig. Sie bildet das Rückgrat unserer Region. Man ist zu Recht stolz auf bestehende Traditionen. Wir sollten sie mit dem Tourismus verbinden.
Der Unterbruch durch die Pandemie hat auch viele Traditionen unterbrochen.
MM: Wir sollten nun vorwärtsschauen und uns darüber Gedanken machen, welche Bedürfnisse es neu gibt. Vielleicht muss man sich von etwas Altem lösen und einige neue Sachen ausprobieren. Nach dem Unterbruch des Gesellschaftslebens muss man neue Brücken schlagen.
CW: Es eröffnen sich neue Chancen.
SR: Diese Chancen sehe ich im Vermitteln des Bestehenden: Wenn die Gäste im Sommer zuschauen können, wie auf dem Holzfeuer Käse entsteht, ist das für den Gast ein Highlight. Er ist fasziniert und begeistert. Kaufen kann man sich heutzutage alles. Aber diese Erinnerung ist einzigartig.
Welches sind die grössten Herausforderungen der nächsten fünf Jahre?
MM: Die Pandemie hat die Menschen dazu gebracht, zusammenzustehen und stolz zu sein, was sie erschaffen und wo sie leben, denn das Schöne und Gute liegt manchmal so nah. Die Herausforderung wird sein, dies zu kommunizieren.
SR: Dankbarkeit lernen und Missgunst ablegen ist wohl die grösste Herausforderung.
CW: Je weiter weg man von Gstaad wohnt, desto öfter werden Gäste als Störfaktor angesehen. Die Herausforderung wird sein, zu vermitteln, dass wir die Gäste brauchen, dass sie willkommen sind. Wir brauchen bei der Grundbrücke kein Tor, das sich nur bei Einheimischen öffnet, sondern ein Willkommensschild. Wir dürfen stolz sein auf unsere Natur und unser Dorf. Wir dürfen es teilen.
Also sollte sich das Tal auf den Ursprung seines Wohlstands besinnen?
SR: Weshalb geht es uns in der Region so gut? Weil die Touristen das Bergtal entdeckt und hier Wertschöpfung generiert haben. Wir müssen uns deshalb nicht verkaufen oder uns alles gefallen lassen, aber wir sollten uns besinnen, weshalb das Saanenland ist, was es ist. Dass der Ursprung des Wohlstandes beim Tourismus ist, vergisst man manchmal.
CW: Tourismus ist nicht nur für die Gastwirtschaft wichtig, sondern auch für die Landwirtschaft.
MM: Die Wertschöpfungskette zieht sich durch alle Berufsgattungen. Das Baugewerbe profitiert ebenso wie die Landwirtschaft. Dadurch konnten wir eine top Infrastruktur auf die Beine stellen, von der andere nur träumen.
SR: Und dafür sollten wir dankbar sein.
Die Dorforganisation organisiert traditionelle Anlässe wie Samichlous und 1.-August-Feiern. Welche Aufgaben bleiben Aussenstehenden verborgen?
SR: Wir sind ein Bindeglied zwischen GST und den kleineren Events. Wir helfen auch, kleinere Anlässe zu organisieren oder unterstützen sie finanziell. Ebenfalls sind wir für die Organisation der Blumendekoration zuständig.
CW: Leider wird die Dorforganisation oft mit GST gleichgesetzt. Manchmal wissen die Einheimischen gar nicht, wie viel Mitgestaltungsfreiraum die Dorforganisationen haben. Auch auf Destinationsebene. Wir konnten beispielsweise an der Destinationsstrategie mitwirken. Da findet ein echter Austausch statt. Vielleicht war das früher nicht gleich, aber in den vergangenen beiden Jahren wurden die Dorforganisationen aufgewertet.
MM: Wir sind sehr nah bei den Bürgern. Sie können mit einer Idee an uns gelangen und wir helfen bei der Umsetzung. Alles was im Kleinen entsteht, kann organisch wachsen und gross werden. Es braucht manchmal etwas Mut, etwas Neues zu kreieren. Aber ich möchte Mut machen: Wir sind gute Ansprechpartner für neue Ideen.
1997 wurden die Dorforganisationen gegründet, als sich die vorherigen Verkehrsvereine zu Gstaad Saanenland Tourismus zusammenschlossen. Heute ist GST eine professionelle Tourismusorganisation mit nationaler Strahlkraft. Braucht es die Dorforganisationen wirklich noch?
CW: Ja, unbedingt! Der Vorstand einer Dorforganisation ist viel näher bei den Einheimischen als die Mitarbeitenden von Gstaad Saanenland Tourismus. Ich glaube, wenn wir die Einheimischen im Boot haben, können wir viel Gutes bewirken. Wichtig ist, dass wir sie ernst nehmen.
MM: Und umgekehrt ist es für Gstaad Saanenland Tourismus wichtig, durch uns den Puls im Dorf zu fühlen. Eine Idee kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn die einheimische Bevölkerung dahintersteht.
CW: (lacht) Sonst geht das Tor zu.
SR: Als Bindeglied möchten wir zwischen der Bevölkerung und GST Brücken bauen. Das schaffen wir, weil der Dorforganisationsvorstand aus Vertretern der Bevölkerung besteht. Sie kommen aus dem Gewerbe, dem Tourismus, der Landwirtschaft und so weiter.
Stellten Sie GST ein Zeugnis aus, was würde darin stehen?
CW: Tourismusdirektor Flurin Riedi hat ein offenes Ohr für alle. Er nimmt die Menschen ernst, egal aus welcher Berufsgruppe, Generation, Klasse oder welchem Gender sie kommen. Ich stelle GST aktuell ein gutes Zeugnis aus.
MM: Tourismus ist wie Gehacktes mit Hörnli. Jeder kann es kochen. Ob es schmeckt oder nicht, ist jedoch Ansichtssache. Sehr subjektiv. Deshalb finde ich es sehr schwierig, ein Zeugnis auszustellen.
SR: Weil es keine genauen Messungstools gibt, ist es schwierig, ein Zeugnis auszustellen. Man weiss nicht, ob die Gäste wegen dieser Werbung kommen oder wegen jener Kommunikation. Deshalb werte ich die Arbeit von Gstaad Saanenland Tourismus eher damit, wie offen die Organisation sich gegenüber den Anliegen von Einheimischen zeigt. Da kann ich ihnen ein gutes Zeugnis ausstellen.