Die Schulen haben ihre Lehrpersonen mehrheitlich gefunden

  11.08.2022 Bildung, Gesellschaft, Politik, Saanenland

Eine Umfrage bei den regionalen Schulen zeigt: Der Grossteil der offenen Stellen ist besetzt. Die Situation bleibt aber angespannt, die Gründe dafür sind vielfältig. Der Kanton hat die Notlage erkannt und will reagieren – für viele Schulleitungen kommt die Reaktion allerdings zu spät.

JOCELYNE PAGE
Am Montag öffnen die Schulen im Saanenland wieder ihre Türen. Mit Schulmaterial gefüllten Rucksäcken strömen die Schülerinnen und Schüler in ihre Klassenzimmer, setzen sich an ihr Pult und breiten ihren Krimskrams aus. Doch wird jemand vor der Tafel stehen, um zu unterrichten?

Herkulesaufgabe: Akquise
Eine Umfrage bei den Schulen im Saanenland zeigt: Alle vakanten Stellen sind besetzt, so bei der Wirtschaftsschule Thun Standort Gstaad, dem Gymnasium Interlaken Abteilung Gstaad, der Rüttischule Gstaad, der Schule Gsteig-Feutersoey, dem OSZ Ebnit, den Schulen Bissen-Turbach und Schönried sowie der Primarschule Saanen. Letztere habe nur keine offenen Stellen mehr, weil mehrere ihrer Kolleginnen und Kollegen bestimmte Lektionen übernommen und das Pensum aufgestockt hätten, erzählt Schulleiterin Eva Frautschi. «Ohne dies ginge es nicht, denn auf die Stelleninserate gab es kein Echo. Um heute Personal zu finden, muss man als Schulleitung eine aktive und oftmals anstrengende Rolle einnehmen.»

Eine offene Stelle gibt es bei der Volksschule Lauenen, dort braucht es laut Schulleiter Johannes Nydegger noch eine Fachperson für sechs Lektionen Betreuung für ein Kind, die allerdings erst nach den Herbstferien laufen. Tom Schild von der Schule Gsteig-Feutersoey müsste eine weitere Lehrperson anstellen, sollten die schon heute steigenden Schülerzahlen sich weiter erhöhen. «Dies muss aber zuerst noch mit dem Schulinspektorat und dem Kanton genau angeschaut werden», so Schild.

Die Faktoren sind vielfältig
Auch wenn im Saanenland wenige Positionen unbesetzt sind, betrifft der akute Mangel an ausgebildetem Lehrpersonal alle Bildungsinstitutionen im Saanenland. Die Gründe dafür sind vielfältig und viele bereits bekannt: Die starken Jahrgänge der Babyboomer-Generation gehen in Pension, die Schülerzahlen steigen seit Jahren, die Aufgabenbereiche und Belastungen der Lehrpersonen und Schulleitungen nehmen zu, die Ansprüche der Eltern, die Diskussion nach mehr Entlöhnung steht immer wieder im Raum, und das Image des Lehrenden erhielt über die Jahre Risse. «Wir haben bereits vor 20 Jahren bei der Politik angeklopft und mitgeteilt, dass die Personalsuche schwierig sei und sich die Situation verschärfen werde. Erst als in den Städten ein Mangel auftauchte, reagierte die Politik», sagt Eva Frautschi.

Die PHBern steht in der Kritik
Ein von den Schulleitungen immer wieder erwähnter Faktor, weshalb eine derartige Notlage erst entstehen konnte, ist die Ausbildung. «Das Studium an der PHBern ist im Vergleich zu anderen Studiengängen sehr starr. Die Präsenzzeit ist hoch und dadurch sind die Studierenden unflexibel, wenn es um erste Einsätze an Schulen geht», ist Martin Stähli der Meinung. Und damit die Volksschulen überhaupt von einem Studierenden profitieren könnten, werde von der PHBern eine komplizierte Bürokratie verlangt, erzählt Eva Frautschi von der Primarschule Saanen. «Die Meldefristen sind zu kurzfristig, um das Interesse an einem PH-Studierenden anzumelden», fügt Frautschi an, denn in diesem Jahr endete die Deadline am 20. Juni. Dies sei unrealistisch: Die Institution würde doch Bescheid wissen über die schwierige Suche nach Fachpersonen, folglich verzögere sich die Fertigstellung der Stundenpläne. Denn erst dann wisse sie Bescheid, ob und wo sie einen Studierenden einsetzen könne. Der Aufwand sei zu gross. «Dies ist sehr schade, denn mit der letzten PH-Studierenden habe ich gute Erfahrungen gemacht.»

Kein einfacher Quereinstieg
Der Berufskollegin Christine Oberli, Leiterin der Rüttischule Gstaad, sind die Strukturen der PHBern auch ein Dorn im Auge. «Sie müsste flexibler mit Personen umgehen, die bereits einen Beruf haben und gerne auf den Lehrerberuf umsteigen möchten.» Sogenannte Quereinsteiger:innen sind diese Tage sehr gefragt: Da sich zu wenig ausgebildetes Fachpersonal auf die Jobangebote melden, suchen die Schulen nach motivierten Leuten, die sich ein Leben im Klassenzimmer vorstellen können. In der Gemeinde Saanen haben die Schulleitungen mehrere Quereinsteiger:innen angestellt, in Lauenen sind es auch einige. Wie Johannes Nydegger von der Volksschule Lauenen erzählt, hätten sie beispielsweise eine Schreinerin für das Fach Werken, die das Fachpatent machen wolle.

Auch Tom Schild von der Schule Gsteig-Feutersoey arbeitet seit Jahren mit Lehrpersonen zusammen, die aus branchenverwandten Berufen kommen. «Sie machen einen ganz tollen Job. Es gibt Personen, welche einfach das Flair haben, mit Kindern zu arbeiten.» So die neue Lehrperson, die als Berufseinsteiger in Gsteig unterrichtet und den Vorkurs absolviert, um an der PHBern für das Studium zugelassen zu werden. «Unser Glück ist es, dass diese Lehrperson eigentlich zum ‹Lehrer› geboren ist, ihr einfach nur die entsprechenden Papiere fehlen.» Der Kanton und die pädagogische Hochschule müssten sich deshalb schleunigst Gedanken machen, wie der akute Lehrermangel behoben werden könne. Die Quereinsteiger:innen seien eine Lösung. «Vielleicht wäre es an der Zeit, gerade in dieser Notsituation auch mal unkonventionelle Wege zu gehen und eventuell die Hürden der gewillten Quereinsteiger nicht allzu hoch anzusetzen», betont Schild.

Die PHBern nimmt Stellung
Die Kritik, dass die Studiumsstrukturen sehr starr seien, hat sich die Institution zu Herzen genommen. Das Studium sei deshalb überarbeitet worden und sei nun individualisiert und flexibilisiert, wie der Fachspezialist Unternehmenskommunikation der PHBern, Michael Gerber, auf Anfrage sagt. «Ab kommenden September profitieren die Studierenden am Institut Sekundarstufe 1 von den neuen Strukturen und Abläufen, für die Primarstufe wird das neue System ein Jahr später eingeführt.» So würden gewisse Veranstaltungen aufgezeichnet, andere könnten per Livestream mitverfolgt werden und andere wiederum hätten eine Präsenzpflicht. Ziel des neuen Ausbildungsprogrammes sei es, dass die Studierenden mehr Verantwortung fürs eigene Lernen übernehmen und auch freier ihre Zeit einteilen können. Damit sollte es noch einfacher werden, eine Teilzeitstelle an einer Schule zu übernehmen, mit der Folge, dass den Bildungsinstitutionen schneller neue Fachkräfte zur Verfügung stehen, erklärt Gerber. Durch das gleichzeitige Studieren und Unterrichten dürfe die Qualität der Ausbildung nicht leiden. Das Studium der berufstätigen Studierenden dauere darum länger. Heute würden im Master des Sekundarstufen-Studiums rund 90 Prozent unterrichten, im vorgelagerten Bachelor-Studiengang seien es bereits rund 40 Prozent.

Johannes Nydegger von der Volksschule Lauenen bestätigt: Die berufsbegleiteten Studiengänge würden sich laut seiner quereinsteigenden Kollegin verändern. «Für ihr Fachdiplom stellte ihr die PHBern ab 2023 in Aussicht, einen bestimmten Anteil online absolvieren zu können.»

Der Kanton reagiert
Die aktuelle Situation des Lehrermangels schrecke zum Glück nicht ab, denn die PHBern verzeichne wiederum rekordhohe Anmeldungs- und Absolventenzahlen, sagte Regierungsrätin Christine Häsler, Vorsteherin der kantonalen Bildungs- und Kulturdirektion (BKD), am Mittwoch vor den Medien (siehe Grafik). Michael Gerber von der PH bestätigt: Rund 550 neue Studierende beginnen diesen Herbst das Studium in den Instituten Primarstufe und Sekundarstufe 1. Die Rekordzahl wurde im letzten Jahr verzeichnet – im Herbstsemester 2021 studierten 3263 Personen an der PH.

«Patentrezepte gibt es nicht», betonte Christine Häsler, wenn es um eine Lösung gegen den Lehrermangel geht. Es sei eine herausfordernde Zeit und «die Situation wird auch noch angespannt bleiben». Sie sei deshalb dankbar für «die sehr grossen Anstrengungen», die alle beteiligten Behörden und insbesondere die Schulleitungen und Lehrpersonen aufbringen würden.«Es ist keine Selbstverständlichkeit», so Häsler. Das gemeinsame Ziel sei es, gute Unterrichtsqualität und Arbeitsbedingungen zu schaffen, trotz aller Herausforderungen. Der Kanton habe deshalb einige neue Massnahmen ergriffen, um dies zu erreichen (siehe Kasten).

Berufsverband stellt Forderungen
Auch Pino Mangiarratti, Präsident des Berufsverbands Bildung Bern, sagte an der Medienkonferenz, dass man das gleiche Ziel wie der Kanton verfolge. Der Verband fordert allerdings klar, dass die Klassenlehrpersonen mit ihrer höheren Verantwortung mehr entlastet und auch entsprechend entlöhnt würden. Zudem bräuchten auch die Schulleitungen genügend Unterstützung: Sie stünden sieben Tage die Woche im Einsatz und oftmals komme die Schulentwicklung zu kurz, um mit der Gesellschaft und Wissenschaft Schritt zu halten. Es sei von grösster Wichtigkeit, dass unausgebildetes Personal die Angebote für Quereinsteiger:innen bei der PH und dem Hochschulinstitut der NMS Bern nutzen würden. Zuletzt müsse das Teamteaching kommen: «Im Zyklus 1 sollte grundsätzlich immer davon ausgegangen werden, dass zwei erwachsene Personen die Kinder unterrichten und betreuen», so Mangiarratti.


MASSNAHMEN DES KANTONS

Um die Schulleitungen und die Lehrpersonen zu entlasten, ergreift die Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) zusammen mit dem Verband Bernischer Gemeinden und in Rücksprache mit den Berufs- und Personalverbänden und der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) zusätzliche Massnahmen. Wie die Regierungsrätin Christine Häsler an der Medienkonferenz mitgeteilt hat, sind vier Massnahmen geplant:
1. Der Einsatz von Klassenhilfen wird auf alle Stufen der Volksschule ausgeweitet. Diese unterstützen die Lehrpersonen im Unterricht. Die pädagogische Verantwortung bleibt bei der Lehrperson.
2. Die auf Antrag der Schulleitungen vorgesehene, begründete, zweite Entlastungslektion für Klassenlehrpersonen wird von den Schulinspektoraten neu solange gewährt, bis definitive Massnahmen für die Zukunft geregelt sind.
3. Schulen, die sich in den Berufsaufträgen «Mit- und Zusammenarbeit» sowie «Weiterbildung» noch nicht auf das Unverzichtbare fokussieren, sind eingeladen, dies zu tun, bis sich die Situation des Lehrpersonenmangels entschärft hat. Dazu gehören eine kritische Prüfung der administrativen Arbeiten vor Ort, der Anzahl Sitzungen und deren zeitlicher Aufwand, Schulentwicklungsprojekte, Schulveranstaltungen etc. Ziel ist eine spürbare Reduktion des Arbeitsaufwands, der nicht den Kernauftrag des Unterrichtens betrifft, damit eine Entlastung für die Lehrpersonen erreicht werden kann. Die BKD setzt ebenfalls alles daran, den administrativen Aufwand für die Schulen möglichst tief zu halten.
4. Die Schulleitungen sollen zusätzliche Unterstützung bei den administrativen Aufgaben erhalten. Die Gemeinden werden eingeladen, die Schulsekretariate bei Bedarf aufzustocken. Zusätzlich beabsichtigt die BKD, mit einem kantonalen Pool zusätzliche Entlastung für die Schulleitungen zu schaffen.

PD/KANTON BERN

 


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