Literatur vermag Angst und Hoffnungslosigkeit überwinden

  19.09.2022 , Kultur

Vier Tage lang widmete sich das Literaturfestival Literarischer Herbst Gstaad namhaften Schriftstellerinnen und Autoren und zog eine interessierte Leserschaft aus nah und fern ins Saanenland. Im Mittelpunkt standen Krieg und Gewalt – Frieden und Hoffnung, aber auch andere grosse Lebensthemen kamen zum Zug.

LOTTE BRENNER
Am Eröffnungsabend vom Donnerstag las der Iraker Usama Al Shahmini, der seit 2002 in der Schweiz lebt und seit 2021 Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens ist. Drei Bücher hat er geschrieben. Sein neues Buch, «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, an den er fliegt», stellte er dem Publikum – darunter eine Klasse des Gymnasiums Gstaad – in der Kirche Zweisimmen vor. Er spricht darin vom Krieg im Iran, von wo er floh, und von der Kraft, die er vor allem in der Natur findet, um der Macht des Hasses und der Zerstörung entgegenzuhalten. Bei einem Wiedersehen mit seiner Familie im Irak sagt der Protagonist zu seiner leidgeprüften zurückgezogenen Mutter: «Ich weiss nicht, wann wir uns wiedersehen. Bis dahin hoffe ich, dass ihr gegen das freudlose Leben kämpft und einen Raum für die Hoffnung schaffen könnt.» Er schreibt weiter: «Am Tag danach bemerkte er, dass die Mutter seine Rede wie eine Befreiung von einer unsichtbaren Last empfunden hatte. Er hatte sie zum ersten Mal beim Stricken wieder lachen sehen.»

Menschliches im Tier – Tierisches im Menschen
Die zweite Lesung aus «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» von Noemi Somalvico spielt auf Erden, im Himmel und in sonderbaren Welten dazwischen. Die Protagonisten Schwein, Dachs, Gott und Reh sind Freunde. Sie werden von Sehnsüchten und der Neugierde getrieben und begeben sich auf Reisen. Gott will unbedingt zur Erde reisen, Schwein ins Jenseits … Sowohl die geschlechterlosen Tiere, welche die Debütantin in ihrem herrlich skurril-humorvollen Buch auftreten lässt, wie auch Gott, der sich mit den menschlich-charakteristischen Tieren anfreundet, suchen in andern Welten den Sinn des Lebens. Zwischen den Zeilen der witzig aufmüpfigen Geschichte steckt sehr viel Philosophisches.

Um das Thema «Freiheit und Frieden» ging es am Eröffnungsabend auch bei der musikalischen Begleitung durch den Cantate Chor Zweisimmen unter der Leitung von Klaus Burkhalter und auf dem Flügel begleitet von Daniela Spasov.

Literarische Verarbeitung
Am zwölften Literarischen Herbst lasen namhafte Autoren und Schriftstellerinnen aus verschiedenen Ländern und Kulturen, wo Krieg und Unterdrückung Tatsache sind, aus ihren Werken. So der Rumäne Catalin Dorian Florescu, der Russe Michail Schischkin, die slowenische Poetin Ilma Rakusa, die Ukrainerin Katja Petrowskaja (in der letzten Ausgabe des «Anzeigers von Saanen» wurde ausführlich über ihre Lesung geschrieben) oder Friederike Kretzen, die zu einer Reise durch Persien führte. Ihre Bücher richten sich gegen Unterdrückung, Hass und Gewalt und vermitteln Botschaften von Frieden und Freiheit.

Daneben gab es Lesungen über Probleme unserer Zeit, zum Beispiel über Nachhaltigkeit und Umwelt oder auch Zwischenmenschliches, über Gefühle und Liebe. Tolle Schriftstellerinnen und Schriftsteller lasen aus ihren Büchern: Rolf Hermann, Marianne Künzle, Claudio Landolt, Julia von Lucadou … und auf einem literarischen Spaziergang mit Michail Schischkin wurde das Lesebedürfnis der zahlreich erschienenen Festivalbesucher noch einmal angereizt.

Wer an einem, mehreren oder gar allen Veranstaltungen des Literarischen Herbstes Gstaad teilnehmen konnte, wird seinen Heisshunger auf Literatur höchstwahrscheinlich baldmöglichst befriedigen müssen.


BESPROCHENE LITERATUR – LESUNGEN

Folgende Bücher, auf die das geglückte, hochinteressante Literaturfestival aufmerksam machte, sind in den Buchhandlungen erhältlich: Noemi Somalvico, «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein»; Usama Al Shahmani, «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt»; Ilma Rakusa, «Kein Tag ohne», Gedichtband; Adelheid Duvanel, «Fern von hier», sämtliche Erzählungen; Catalin Dorian Florescu, «Der Feuerturm»; Rolf Hermann, «In der Nahaufnahme verwildern wir», Gedichte; Friederike Kretzen, «Das Bild vom Bild vom grossen Mond»; Marianne Künzle, «Da hinauf»; Claudio Landolt, «Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg», Vorderglärnisch, Bergporträt, Novelle; Julia von Lucadou, «Tick Tack», Roman.


SIE DARF NICHT VERGESSEN WERDEN

Am Schlussabend des 12. Literaturfestivals Literarischer Herbst Gstaad fand ein Gespräch zwischen der Literaturwissenschaftlerin, Kulturpublizistin und Kuratorin Christa Baumberger und der Literaturkritikerin, Essayistin und Dozentin Friederike Kretzen über die grossartige Autorin Adelheid Duvanel statt.

Die Doppelbegabte aus dem Baselland wirkte als bildende Künstlerin und Autorin, wurde in ihrer Zeit (sie verstarb im Jahr 1996) jedoch nicht gehört und erst kürzlich entdeckt. Friederike Kretzen hat deshalb in einem Band ihre sämtlichen Erzählungen herausgegeben und sagte dazu: «Sie ist die Entdeckung der letzten Jahre – eine Meisterin der kleinen Form.» Mit der kleinen Form meinte Kretzen, dass ihre Erzählungen sehr kurz, jedoch prägnant nachhaltig sind.

Eine grosse Kunst ihrer Erzählungen ist laut Kretzen, dass es der Autorin gelingt, trotz grossem Unglück nicht anzuklagen. Es ist zweifellos harte Kost – trotzdem schreibt Duvanel in «schwebender Leichtigkeit». Die Malerin, mit einem Maler verheiratet, malte erst nach der Trennung von ihrem Mann wieder. Zuvor hatte sie gelernt, «mit den Worten zu malen», wie sie sich ausdrückt. Ihr Leben war sehr schwer, ihr Ehegatte schwierig, die Tochter drogenabhängig, sie selber immer wieder in der psychiatrischen Klinik... und doch hat sie in ihrer Kunst wohl Schönes erfahren. Dazu Kretzen: «Wer solche Texte schreibt, hat ein glückliches Leben geführt.»

Weil der Literarische Herbst wiederum zur grössten Zufriedenheit der Organisatoren über die Bühne lief, wird auch schon wieder für die Zukunft geplant. Friederike Kretzen nutzte deshalb die Gunst der Stunde und beschloss den Abend mit einem Herzenswunsch: der Errichtung einer Stiftung «Adelheid Duvanel», vergleichbar mit derjenigen, die für Robert Walser geschaffen wurde.

LOTTE BRENNER


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