Mehr als 100 Jahre Viehzucht im Gsteig – ein Rückblick
23.04.2024 Gsteig, LandwirtschaftEigentlich kann die Viehzuchtgenossenschaft Gsteig heuer ihr 110-jähriges Bestehen feiern. Gegründet wurde sie nämlich im Jahr 1914. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage wurde die Genossenschaft jedoch 1935 aufgelöst und zehn Jahre später neu ...
Eigentlich kann die Viehzuchtgenossenschaft Gsteig heuer ihr 110-jähriges Bestehen feiern. Gegründet wurde sie nämlich im Jahr 1914. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage wurde die Genossenschaft jedoch 1935 aufgelöst und zehn Jahre später neu gegründet. Ein Rückblick.
ANITA MOSER
Eigentlich dürfte die Viehzuchtgenossenschaft Gsteig auch 110 Jahre feiern. «Gemäss Angabe des Fleckviehzuchtverbandes darf die Zeit von 1914 bis 1935 für ein Genossenschaftsjubiläum angerechnet werden», heisst es in der Jubiläumsschrift «75 Jahre Viehzuchtgenossenschaft Gsteig» vom Oktober 1999.
«Die Gründer haben damals erkannt, dass gemeinsames Vorgehen eher zum Ziel führt als Alleingang. Bestimmt aus mangelnder Mobilität und schwierigen Transportmöglichkeiten wurden damals in jedem Dorf eine oder sogar mehrere Viehzuchtgenossenschaften gegründet. Es ist der Traditionsverbundenheit der Züchter und ihrer Familien zu verdanken, dass so viele Genossenschaften der grassierenden Fusionswelle ‹Widerstand› geleistet haben. So ist es möglich, dass auch im neuen Jahrtausend im friedlichen Wettkampf um Leistungspunkte und Anerkennung gerungen werden kann», schreibt Martin Gehret, der damalige Gemeinde- und Gemeinderatspräsident, in seinem Grusswort in der Jubiläumsschrift vor 25 Jahren.
Von 7 auf 34 Mitglieder in 21 Jahren
Erster Genossenschaftspräsident war Hans Kopf, Lehrer und Tierhalter. Seine Tiere waren die ersten, die am 13. Oktober mit wunderschöner Handschrift im ersten Zuchtbuch eingetragen wurden.
Zählte die Genossenschaft zu Beginn sieben (Gründungs-)Mitglieder, wuchs die Mitgliederzahl bis zu den Krisenjahren auf stattliche 34 Landwirte. Auch viele Feutersoeyer waren dabei, obwohl das Nachbardorf am 4. Mai 1921 seine eigene Viehzuchtgenossenschaft gründete.
Die wirtschaftliche Lage verschlimmerte sich dermassen, dass sich die Gsteiger gezwungen sahen, ihre Viehzuchtgenossenschaft im Jahr 1935 aufzulösen. Die letzten Eintragungen finden sich am 19. Oktober 1934 im zweiten Zuchtbuch.
Neugründung am 1. September 1945
Am 1. September 1945 wurde die VZG Gsteig von 20 Interessierten neu gegründet. Als Präsident amtete Fritz Graa, zwei Jahre später übernahm August Bettler. Gemäss einer Statutenänderung am 9. September 1950 durften keine Mitglieder mehr aus Feutersoey aufgenommen werden. Entscheidend waren Postgrenze und Wohnsitz. Sechs Jahre später, am 3. März 1956, beschloss die Versammlung mit 18 gegen zwei Stimmen, das Fernbleiben an Generalversammlungen zu büssen. Am 21. Februar 1960 wurden die Bussen jedoch wieder abgeschafft.
Von den Jahren 1914 bis 1935 existieren keine Protokolle mehr, nur die zwei Zuchtbücher geben noch Aufschluss über die Gründung, die Mitglieder und die Zuchttiere. An der Neugründung der Genossenschaft wurde beschlossen, dem Zuchtbuchführer zwei Franken für jedes Zuchttier und zweieinhalb Franken pro Schein und Metallmarke zu entrichten. Dem Kassier wurde ein Jahreslohn von 70 Franken zugesprochen. Zudem wurde beschlossen, ein grosses Brandeisen «Gsteig» anzuschaffen sowie die Zahlenbrandeisen von der alten Genossenschaft Gsteig zu übernehmen. Und man setzte das Minimum der vorzuführenden Tiere auf 83 Punkte fest.
Genossenschaftsstiere
Im Lauf der Jahre besass die Viehzuchtgenossenschaft Gsteig mehrere Stiere. Amor war das erste eingeschriebene Tier der Genossenschaft, gekauft hatte ihn Jakob Oehrli-Zingre. Der Genossenschaft passte der Stier jedoch nicht und sie verkaufte ihn am 3. April 1916 für 1000 Franken.
An der Versammlung vom 27. Juli 1946 wurde eine sechsköpfige Kommission mit dem Kauf eines Genossenschaftsstiers beauftragt. Am 7. September 1946 wurde Munter zu einem unbekannten Preis gekauft, zur Finanzierung wurde ein Privatdarlehen aufgenommen. «Fünf Mitglieder stellen das nötige Kapital zinsfrei bis nach der Punktierung zur Verfügung», heisst es in der Festschrift zum 75-Jahr-Jubiläum. August Bettler offerierte, den Stier bei sich bei gutem Heu und Pflege zu überwintern – für 100kg Hafer sowie ein Futtergeld von vier Franken pro Tag und 50 Rappen pro gedecktes Tier.
Drei Jahre später, am 6. September 1949, erstand die Genossenschaft den Stier Lord zum Preis von 6650 Franken und am 5. September 1953 den Stier Held für 5800 Franken.
Der nächste Eintrag stammt vom 23. März 1972. Gemäss einem Versammlungsentscheid wurde der Genossenschaftsstier Galant zum Schlachtpreis verkauft. «Er springt nur schlecht oder gar nicht», so die Begründung. Zwei Jahre später erwarb die Genossenschaft für 5100 Franken den Stier Rebus von Adolf Bach. 1978 wurde beschlossen, keinen Genossenschaftsstier mehr anzuschaffen.
Verewigt auf «Schoggipapier»
Ab 1966 hielt die Genossenschaft ihre Beständeschauen auf der für 300 Franken gepachteten Pfrundmatte ab. Jedes Mitglied hatte für die Anbindevorrichtung zwei Holzpfähle zu liefern. Seit 1985 dient der Parkplatz beim Sigristenhaus an der Innergsteigstrasse als Viehschauplatz. Die Kosten für die Anbindevorrichtung beliefen sich auf 14’000 Franken, davon wurden 4000 Franken von der Gemeinde übernommen.
Die Viehzuchtgenossenschaft Gsteig kann zahlreiche Zuchterfolge vorweisen. Unter anderem erreichte die bekannte Stammkuh Chleb (Tochter von Stier Rebus) von Arnold Reichenbach an einer Amtschau dreimal den zweiten Rang. Freudi von Walter und Kaspar Brand nahm 1964 an der Expo in Lausanne teil und wurde gar zum Fotosujet auf dem Schokoladenpapier von Camille Bloch. Und die Kuh Prinzessin (Tochter von Stier Galant) von Züchter Ueli Perreten – dem Vater des aktuellen Präsidenten Michael Perreten – lief an der internationalen Landwirtschaftsmesse SIA in Paris und ein Jahr darauf an der BEA.
Aktuell 18 Mitglieder
Bis 1999 stieg die Mitgliederzahl auf 29, aktuell zählt der Viehzuchtverein VZV Gsteig, wie die ehemalige Genossenschaft heute heisst, noch 18 Mitglieder. Der Jahresbeitrag beläuft sich auf 40 Franken, plus ein Entgelt von 10 Franken jährlich pro Herdebuchtier. Mittlerweile gibt es keine örtlichen Beschränkungen mehr, es können auch Interessierte aus anderen Dörfern Mitglied werden. Der Vorstand arbeitet ehrenamtlich, entlöhnt werden aber nach wie vor der Kassier sowie der Schauorganisator respektive die Schauorganisatorin, wie das Amt des früheren Zuchtbuchführers heute heisst. «Mit dem Einzug der elektronischen Datenbanken braucht es keinen Zuchtbuchführer mehr», so Michael Perreten. «Früher hat man die Geburten dem Zuchtbuchführer gemeldet, er erstellte eine Deckkarte und hat dem Kalb die Metallohrmarke ins Ohr gedrückt.» Heute meldet der Betriebsleiter die Geburten elektronisch an die Tierverkehrsdatenbank TVD, diese meldet sie dem jeweiligen Zuchtverband weiter – im Fall Gsteig ist dies Swiss Herdbook. «Die Ohrmarke – sie ist heute aus Plastik – bringt der Betriebsleiter selber an.»
Schaufenster und sozialer Treffpunkt
Die Förderung und der Erhalt der Fleckviehzucht ist der eigentliche Sinn und Zweck des Viehzuchtvereins. «Die verschiedenen Rassen haben Zuchtziele definiert. Diesen möchte man bei der Zucht so nah wie möglich kommen», erklärt Perreten. Und an Schauen könne man sich präsentieren und messen, die Tiere untereinander vergleichen. «Aber nicht nur das ist wichtig. Genauso geschätzt wird die Geselligkeit an solchen Anlässen», betont Perreten. Er selber wertet den sozialen Aspekt als sehr hoch. Es kämen nämlich nicht nur Viehzüchter und Interessierte aus der Landwirtschaft an solche Anlässe, sondern Leute aus allen Schichten und Berufen. «Persönlich finde ich es wichtig, dass man an solchen Traditionen festhält», so Perreten. Besonders angetan ist der 54-Jährige vom Heimzügeln mit den geschmückten Kühen nach der Herbstschau. «Für mich gehört das dazu.» Solches sei nicht mit Geld aufzuwiegen. «Viel mehr zählt die Freude.»
Aktuelle Zuchterfolge
Nicht nur in der Vergangenheit schafften es Tiere von Gsteiger Viehzüchtern an regionalen und nationalen Ausstellungen auf Spitzenplätze oder holten gar Titel. Auch in den letzten 25 Jahren verzeichneten die Gsteiger etliche Zuchterfolge. Erst im vergangenen Jahr wurde Florina Romina aus dem Stall von David Gander an der Amtschau in Saanen, die alle sechs Jahre stattfindet, zur Rindermiss gekürt. Und Perretens Orkan Alpina holte den ersten Rang an der Verbandsschau VSA in Thun im Jahr 2022 und den vierten Rang an der Expo Bulle im selben Jahr. Viking Madrisa aus dem Stall von Markus und Jörg Gander lief 2014 an der BEA und wurde mit der Goldmedaille Swisscow ausgezeichnet. Aus demselben Stall kommt Kadi Lona, Miss Schöneuter an der Amtschau 2023. Auch der aktuelle Vereinspräsident Michael Perreten kann Zuchterfolge vorweisen. Seine Kuh Angela war an der Swiss Expo 2008 Rinderchampion, nahm an zwei Zuchtfamilienschauen teil und ist die erste Kuh des Viehzuchtvereins Gsteig mit 100’000 Kilogramm Milchleistung im Alter von 14 Jahren. «In der Viehzucht hat sich in den vergangenen 25 Jahren einiges verändert. Wir sind stolz, dass unser Verein nach wie vor besteht und wir immer wieder Zuchterfolge feiern können», so der Vereinspräsident.
Quellen: Jubiläumsschriften «75 Jahre Viehzuchtgenossenschaft Gsteig» und «100 Jahre VZV Gsteig».
100 (110) JAHRE VIEHZUCHTGENOSSENSCHAFT GSTEIG
Die Präsidenten
1914–1920 Hans Kopf, Lehrer, Dorf
1920–1928 Edward Linder, Dorf
1929–1935 Viktor Seewer
1945–1946 Fritz Graa, Dorf
1947–1960 August Bettler, Saali
1961–1978 Ueli Perreten, Wälteli
1979–1981 Arthur Reichenbach, Rohr
1982–1986 Ueli Perreten, Wälteli
1987–1999 David Gander, Innergsteig
2000–2009 Christian Linder
2010–2021 Markus Gander
2022– Michael Perreten
Der aktuelle Vorstand
Präsident: Michael Perreten
Vizepräsident: David Gander
Kassier: Robin Kohli
Beisitzer: Patrick Perreten
Sekretärin: Vanessa Gander (bis 2024)
Marina Ast (ab 2024)