Mit zwei Rädern auf über 6725 Meter über Meer zum Weltrekord
17.07.2023 , PorträtSAANEN/CHILE Der Saaner Hard-Enduro-Spezialist Thomas Schranz wollte hoch hinaus – und er hat es geschafft: Er brach den Höhenweltrekord in der Kategorie Motorrad und fuhr im chilenischen Gebirge auf über 6725 Meter über Meer. Doch es wird nicht sein prägendstes ...
SAANEN/CHILE Der Saaner Hard-Enduro-Spezialist Thomas Schranz wollte hoch hinaus – und er hat es geschafft: Er brach den Höhenweltrekord in der Kategorie Motorrad und fuhr im chilenischen Gebirge auf über 6725 Meter über Meer. Doch es wird nicht sein prägendstes Erlebnis sein. Erinnerungen eines passionierten Sportlers an eine unfassbare Zeit.
JOCELYNE PAGE
Thomas Schranz hat Benzin im Blut, im wahrsten Sinne: Im Berufsalltag schraubt er an Autos in seiner Werkstatt in Saanen, in seiner Freizeit an seinen Motorrädern. Doch seine wahre Leidenschaft gilt dem Sport selbst: Seit 13 Jahren nimmt er an internationalen Hard-Enduro-Wettkämpfen teil – dies sehr erfolgreich, allen Widrigkeiten zum Trotz. So brach er sich beispielsweise bei einem Wettkampf vor rund einem Jahr den Rücken, kämpfte sich aber mit eisernem Willen wieder zurück auf den Sattel und nahm sich seiner bisher grössten Herausforderung an: den Höhenweltrekord in der Kategorie Motorrad brechen. So viel sei schon jetzt verraten: Er war mehr als erfolgreich. Der Weg dahin war allerdings alles andere als ein Zuckerschlecken.
Kein unbeschriebenes Blatt
Thomas Schranz ist ein bescheidener Typ. Angeben ist nicht seine Art, auch wenn er allen Grund dazu hätte. Im Interview erzählt er, an verschiedenen Wettkämpfen teilgenommen zu haben, in einem Nebensatz erwähnt er einen Podestplatz. Recherchen nach dem Gespräch zeigen: Er ist kein Unbekannter im internationalen Motorradzirkus. Bereits mehrere sportliche Erfolge durfte er feiern und gehört damit zu den besten Enduro-Spezialisten der Schweiz (siehe Kasten «Einer der erfolgreichsten Hard-Enduro-Piloten der Nation»). Und trotzdem: Wenn er vom Motorradsport und über seine Erlebnisse spricht, wird einem schnell klar, dass er dieses Hobby nicht aus dem Wunsch nach Ruhm ausführt. Es sind reine Leidenschaft und Begeisterung, die ihn antreiben. Sie waren auch der Grund, weshalb er sich vergangenen Herbst mit zwei weiteren erfolgreichen Schweizer Enduro-Piloten – Jiri Zak und Raffael Panzeri – in den Flieger Richtung Chile setzte, um sich dem höchsten aktiven Vulkan der Welt zu stellen. Der Ojos del Salado – 6893 Meter über Meer – war bereits einmal Schauplatz eines Weltrekords: Sein Teamkollege Jiri Zak schaffte es auf 6546 Meter über Meer. Das Moto-Center-Schwyz-AG-Team, unter dessen Flagge Schranz jeweils an den Wettkämpfen teilnimmt und mit welchem er auch in die Anden gereist ist, hatte sich somit das Ziel gesetzt, noch höher und weiter zu gehen.
Der unerwartete Erfolg
Von ihrem Basislager auf 4239 Meter über Meer aus brachen sie die ersten Tage stets früh morgens bei minus vier Grad für Erkundungs- und Trainingstouren auf, um beim tatsächlichen Weltrekordversuch vorbereitet zu sein. Tagsüber reichten die Temperaturen bis auf über 25 Grad. Bei den Geländefahrten galt es herauszufinden, über welche Seite der Vulkan am besten zu erreichen ist und wo die Hänge am sichersten sind – denn neben wenig Sauerstoff waren sie auch technisch aufgrund des unwegsamen Geländes gefordert (siehe Kasten «Training und Taktik»). Plötzlich ging es Schlag auf Schlag: Thomas Schranz war an einem Vorbereitungstag auf 6725 Meter über Meer angekommen – der neue Höhenweltrekord in der Kategorie Motorrad stand. Was war geschehen? «Wir sind immer als Team gestartet. Wenn du aber eine gute Spur erwischst, setzt du dich ab und gehst deinen eigenen Weg.» So fuhr er auf der Westseite des Vulkans auf einen Grat, auf dem er in einem zügigen Tempo immer höher und höher gelangte, sich selbst pushte und immer weiterkämpfte, bis er bemerkte, dass er über der Weltrekordmarke lag. «Ich suchte mir einen sicheren Standort, setzte den Töff ab und genoss erstmals den Erfolg, ich freute mich riesig! Ich schoss ein paar Fotos mit dem Handy und machte mich dann auf den Rückweg, der auch nicht ohne war», erinnert sich der Saaner. Angekommen im Basislager, schwappten die Emotionen über – grosses Fest unter den Teamkollegen und dem Coach Patrick Voser.
Ende gut, alles gut?
Thomas Schranz wollte mehr. Vier Tage später schwang er sich mit seinen Endurofreunden wieder auf die Bikes und erlebte das selbe Szenario: Ab einer gewissen Höhe war er allein auf weiter Flur, suchte nach Aufstiegsmöglichkeiten und musste aufgrund verschneiter Hänge einen Kurswechsel einleiten. Sackgasse. «Ich kam nicht mehr zurück zum Team. Ich fuhr also auf der anderen Seite des Vulkans hinunter, die in Argentinien lag, um eine Strasse zu finden, die mich wieder zum Basiscamp bringt», erinnert sich Schranz. Angekommen an einer Abzweigung, fuhr er hin und her, bis er bemerkte: Das Benzin wurde knapp, weit und breit kein Mobilfunkempfang. «Ich fand eine Hütte, in der ich mich für die Nacht einrichten wollte, als ich plötzlich Reifengeräusche draussen hörte.» Es waren vier Bergbauern auf einem Pick-up. «Es handelte sich um eine Sömmerungshütte, die acht Monate unbewohnt war. Genau an diesem Tag haben die Bauern beschlossen, die Hütte einzurichten, um später mit dem Vieh hochzukommen. Welch ein Zufall!», erzählt Schranz, immer noch ungläubig, solch ein Glück erlebt zu haben. Nicht der spanischen Sprache mächtig, erklärte er sich mit Händen und Füssen und traf glücklicherweise auf Gastfreundschaft: Sie boten ihm einen Schlafplatz an und brachten ihn am nächsten Tag zu einer Tankstelle. «Ich wollte mich erkenntlich zeigen und fegte mit ihnen die Böden, machte die Betten, versuchte ein Stromproblem zu lösen – das, was halt so anfiel. Am Abend assen wir gemeinsam und spielten Domino», sagt er grinsend, wechselt aber abrupt die Miene. Er wird nachdenklich. «Im Basislager und zu Hause in Gsteig bei meiner Frau war die Stimmung derweil düster, verständlicherweise.»
Das Team versuchte ihn zu finden, bis es erfolglos im Basislager auf ihn wartete. Am nächsten Morgen entschieden sie, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen und einen Suchhelikopter loszusenden, doch da kam Thomas Schranz um die Ecke: Nachdem er die misstrauischen, argentinischen Zollbeamten mit Fotos und ohne Papiere überzeugen konnte, gelang ihm endlich die Rückreise. «Zwar hatten die Kollegen meine Frau schon erreicht, aber den Rettungsdienst hatten sie noch nicht kontaktiert.»
Um Erfahrungen und einen Weltrekord reicher
Erleichterung auf allen Seiten und eine unglaubliche Geschichte für Thomas Schranz. Wie sieht er das Abenteuer in der Retrospektive? «Ich würde es wieder so machen! Aus solchen Situationen lernt man viel», meint Schranz. Zuhause wieder angekommen, ist er um einen Weltrekord reicher. Beglaubigt ist er bisher noch nicht, doch das stört ihn nicht. Zufrieden ist er trotzdem. «Und ich weiss, dass es nicht das letzte Mal gewesen ist, dass ich mich in solche Höhen wagen werde. Ich möchte dies nochmals erleben, ob mit Töff oder ohne.»
EINER DER ERFOLGREICHSTEN HARD-ENDURO-PILOTEN DER NATION
Thomas Schranz lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Gsteig, in Saanen führt er als ausgebildeter Automechaniker seine eigene Autogarage. Eine gewisse Extremsportader hat er immer schon besessen, so begab er sich früher als Bergsteiger auf Hochtouren und fand mit der Zeit seine Leidenschaft im Motorradsport. Zuerst schnupperte er Luft in der Kategorie Motocross und Enduro, bevor es ihn zu Hard Enduro hinzog. Hard Enduro kombiniert die extremsten Elemente der wichtigsten Disziplinen des Off-Road-Motorradrennsports wie die hohen Geschwindigkeiten und langen Distanzen des Endurance, die technischen Fähigkeiten und Hindernisse des Trials, die Sprünge und schnellen Linien des Motocross und die Navigationsherausforderungen des Cross-Country. Schranz nimmt seit 13 Jahren an verschiedenen Rennen teil, beispielsweise in Frankreich und Italien. Einer der bedeutendsten und grössten Hard-Enduro-Wettkämpfe ist in Rumänien: Ein mehrtägiges Rennen, bei dem sich Schranz auch schon mehrmals erfolgreich durchgesetzt hat und Podestplätze holte. Beim Rennen fahren die Athleten vier Tage lang zwischen 100 bis 120 Kilometer durch Wald und Gebirge. 2019 landete er dort auf dem zweiten Platz.
PD/JOP
TRAINING UND TECHNIK
Harte Nächte ohne Sauerstoff
Da die drei Enduro-Piloten den Vulkan ohne zusätzlichen Sauerstoff bezwingen wollten, war im Vorfeld intensives Training angesagt. Neben einem aufbauenden Fitnessprogramm durchliefen die Sportler während drei Wochen vor der Abreise ein Hypoxietraining (Höhentraining): Jede Nacht schliefen sie in einem Schritt für Schritt sauerstoffreduzierenden Höhenzelt. «Unsere Körper sollten sich an die klimatischen Bedingungen gewöhnen. Während des Weltrekordversuches war es zwar immer noch eine Tortur, denn die Luft war sehr dünn. Trotzdem glaube ich, dass ich ohne diese Vorbereitungen total aufgeschmissen gewesen wäre», erinnert sich Schranz und beginnt zu schmunzeln. «Gegen Ende der Trainingsperiode habe ich eine Nacht unglaublich gut geschlafen. Als ich aufwachte, fühlte ich mich seit langer Zeit nach dem Schlafen wieder erholt. Ich wertete dies als Zeichen, dass das Training anschlug. Doch dann bemerkte ich: Ich hatte das Zelt nicht richtig verschlossen», erzählt er lachend.
Über Stock und Stein, Schnee und Eis
Die sauerstoffreduzierte Luft war allerdings nicht das einzige Hindernis, das zu bewältigen war. Der Weg bis zum Vulkan war geprägt von wechselndem Untergrund – von lockerem Gestein hin zu schroffem Gebirge, von schneebedeckten Hängen zu eisigen Spalten. Taktisches Fahren war an der Tagesordnung, schnelle Manöver bei Unerwartetem war die Devise, das Bike schieben wo nötig – alles auf über 6000 Meter über Meer mit einem 120 Kilo schweren Ein-Zylinder-Vier-Takt-Endurobike. «Man muss ständig seinen Fahrstil anpassen. Durch die schnellen Reaktionen und Krafteinsätze ist man ständig mit Atemaussetzern konfrontiert. Man hyperventiliert, es ist ein Dauerzustand», erklärt Thomas Schranz. Es sei deshalb von Vorteil, wenn man das vor einem liegenden Terrain lesen und einschätzen könne.
JOP