Gestresste Tierärzte: Jetzt gibts die Notfallnummer
09.04.2024 Gesellschaft, InterviewDass Tierärztinnen und Tierärzte berufsbedingt unter hohem Druck stehen, ist spätestens seit einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2010 bekannt. Wie erleben Tierärztinnen und -ärzte in unserer Region die Situation heute?
KEREM S. MAURER
Dass Tierärztinnen und Tierärzte berufsbedingt unter hohem Druck stehen, ist spätestens seit einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2010 bekannt. Wie erleben Tierärztinnen und -ärzte in unserer Region die Situation heute?
KEREM S. MAURER
Laut einer Mitteilung der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST) betreibt die Gesellschaft seit einem Jahr die Notfallnummer «SOS for Vets» für Tierärztinnen und -ärzte sowie tiermedizinisches Praxispersonal in schwierigen Lebenssituationen. Geboten werden soll sofortige Hilfe bei belastenden Situationen im Beruf. Dies ist scheinbar nötig. Denn eine US-amerikanische Studie, welche erstmals im März 2010 publiziert wurde, kam zum Schluss, dass Tierärzte eine viermal so hohe Suizidrate aufweisen wie die Allgemeinbevölkerung und etwa eine doppelt so hohe wie andere Gesundheitsberufe. Im ersten Jahr riefen laut GST 13 Personen bei «SOS for Vets» an. Die Bandbreite ihrer Anliegen sei sehr gross gewesen, heisst es dazu im SAT, dem Schweizer Archiv für Tierheilkunde, Heft 3 vom März 2024. Von den 13 hätten zwei Suizidgedanken geäussert, andere hätten von Burn-outs gesprochen oder von Problemen im Zusammenhang mit dem Euthanasieren, also dem Einschläfern, von Tieren.
Viele Faktoren führen zu Stress
Laut SRF, welches das Thema aufgegriffen und in verschiedenen Beiträgen die Gründe für die hohe Belastung in Tierarztpraxen untersucht hat, ist das Tragen der Verantwortung für andere Lebewesen ein gewichtiger Faktor. Denn wenn ein Tierarzt einen Fehler mache, könne dies für das Tier verheerende bis tödliche Folgen haben. Dazu komme, dass Tiere in weiten Teilen unserer Gesellschaft nach wie vor tendenziell einen tieferen Stellenwert innehätten als Menschen. Daher sei auch der Umgang mit Tierärzten anders als jener mit Humanmedizinern. Auch werde der Beruf des «Kuscheltierdoktors» oft romantisiert und belächelt. Dazu komme, dass die Tiereuthanasie zum traurigen Alltag gehöre – bei Menschen, die eigentlich von Berufs wegen den Tieren helfen wollen. Durch die Euthanasie kommen Tierärzte niederschwellig zu Gift und Spritzen – auch für sich selbst. Ein weiterer Grund sei, dass Tiermedizin unter Umständen sehr teuer werden könne und die Tierbesitzenden nicht immer für die Kosten aufkommen wollten oder könnten, was zu finanziellen Schwierigkeiten, sprich existenziellen Problemen führen könne.
Druck wird auch in unserer Region ausgeübt
«Ich finde es bedrückend, dass sich auch junge Tierärztinnen und Tierärzte das Leben nehmen. Auch Kolleginnen von mir haben sich schon berufsbedingt umgebracht», sagt eine Tierärztin aus der Region, die ihren Namen an dieser Stelle nicht lesen will, gegenüber dieser Zeitung. Der Stress in ihrem Beruf sei wirklich gross. Sie habe selbst während zehn Jahren an sieben Tagen die Woche gearbeitet. Doch das sei nicht das Ärgste. «Schlimmer ist der Druck, der von den Tierbesitzenden auf die Tiermediziner ausgeübt wird», sagt sie und erzählt von einem Fall, den sie selbst in unserer Region erlebt hat.
Dabei ging es um eine nicht gechippte Katze, die nach einem Verkehrsunfall schwer verletzt war und Lähmungserscheinungen aufwies. Nachdem die Besitzerin nach langer Suche ausfindig gemacht worden sei, habe diese ihre Katze, die als Intensivpatientin an einer Infusion hing, tags darauf in der Praxis besucht. Die Tierärztin empfahl der Patientin, eine Computertomografie (CT) zu machen, konnte ihr aber nicht versprechen, dass das Tier vollends genesen würde. Klar aber war, dass der folgende Pflegeaufwand für die Katze enorm gewesen wäre. Dies sei der Besitzerin zu viel gewesen, worauf diese gefordert habe, das Tier sofort einzuschläfern.
Nach getaner Arbeit verrechnete die Tierärztin ihren Aufwand und schickte eine Rechnung, welche von der Besitzerin allerdings als zu hoch erachtet wurde. Sie verweigerte die Bezahlung. Die Tierärztin verwies darauf, dass sie nach Ablauf der Zahlungsfrist rechtliche Schritte einleiten würde. Daraufhin habe sich ein weiteres Familienmitglied der Tierbesitzerin eingeschaltet. Dieses habe gesagt, dass es viele Kollegen habe, von denen keiner je wieder in ihre Praxis kommen würde. Sie könne schliessen und wieder dahin zurückkehren, von wo sie gekommen sei.
«Ich habe ein dickes Fell, mir macht so etwas nichts aus», sagt die Tierärztin, «aber ich habe junge Kolleginnen und Kollegen, die sich solche Fälle sehr zu Herzen nehmen.»
Keine offiziellen Zahlen
Suizid nach Beruf sei schon eine recht alte Frage der Suizidforschung, teilt der Informationsdienst des Bundesamtes für Statistik (BFS) auf Anfrage mit. Das BFS habe 1997 zum letzten Mal eine Studie mit schweizerischen Daten der Jahre 1979 bis 1983 publiziert. «Leider verfügen wir im BFS nicht über aktuellere Zahlen und können nicht sagen, wie sich die Situation in den letzten vierzig Jahren verändert hat», so die Medienstelle des BFS. Aber man arbeite an einem langfristigen Projekt, welches wieder aktuelle Zahlen für die Schweiz liefern soll. Der Zeitpunkt des Abschlusses könne derzeit noch nicht vorhergesagt werden.
VERSORGUNGSENGPÄSSE BEI TIERARZNEIMITTELN:
TIERÄRZTESCHAFT FÜHLT SICH VON BUNDESRAT ALLEIN GELASSEN
Damit der Traumberuf Tierarzt nicht zum Albtraum wird, braucht es laut der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST) dringend einige Anpassungen. FOTO: ADOBESTOCK
Laut einer Medienmitteilung der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST) fehlen in der Tiermedizin wichtige Medikamente. In zwei Interpellationen habe die Tierärzteschaft den Bundesrat um eine Einschätzung möglicher Massnahmen angefragt. «Die Behörden wollen nicht aktiv werden, obwohl sich die Situation immer mehr zuspitzt», heisst es in der Mitteilung.
Die Tierarzneimittelversorgung der Schweiz habe sich in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert. Unterdessen fehlten immer mehr lebensnotwendige Medikamente, insbesondere für Nutztiere. Darunter auch Kalzium-Infusionen, ein Notfallmedikament für Kühe nach der Geburt. «Bei einem akuten Mangel sterben die Tiere innerhalb von Stunden», schreibt GST.
In der letzten Wintersession habe GST in zwei Interpellationen mehrere Lösungsvorschläge skizziert – beispielsweise eine Überprüfung der Qualitätsanforderungen für Nutztiermedikamente, eine automatische Übernahme von Zulassungen aus der EU und Erleichterungen bei Importen durch veterinärpharmazeutische Firmen. Doch der Bundesrat habe all diese Lösungsvorschläge abgelehnt.
Die Tierärzteschaft sei täglich von Liefer- und Versorgungsengpässen betroffen. Tierarztpraxen bräuchten viel Zeit, um Alternativen zu beschaffen. Die Gründe dafür seien vielfältig: Die speziellen Anforderungen des kleinen Schweizer Marktes erschwere die Zulassungen, die hohen Anforderungen an die Qualität mache eine Inlandproduktion unrentabel und es gebe keine Bundesstelle, welche die Engpässe koordiniere. Importe würden durch unzählige Hürden erschwert.
Nun fordere die GST Politik und Behörden auf, ihre Forderungen umzusetzen und wenn nötig rechtliche Anpassungen vorzunehmen. «Die Tiere, die Tierhaltenden und die Tierärzteschaft sollen nicht darunter leiden, dass niemand die nötigen Massnahmen umsetzen will», heisst es in der Mitteilung.
PD/KMA
«Der Tierarzt ist da, jetzt wird alles gut!»
Felix Neff liebt seinen Beruf und würde wieder Tierarzt werden, wenn er noch einmal wählen könnte.
Felix Neff lebt seit 20 Jahren im Saanenland und ist seit 18 Jahren Inhaber der Bergpraxis Animal in Saanen. Er erzählt im Interview, warum er trotz Arbeits- und Spardruck seinen Beruf liebt und dass er – könnte er wählen – noch einmal denselben Berufsweg einschlagen würde.
KEREM S. MAURER
Herr Neff, warum sind Sie Tierarzt geworden, was war Ihre Motivation?
Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und hatte seit ich im Kindergarten war diesen Berufswunsch. Ich hatte damals bei den Tieren meines Vaters gesehen, wie der Tierarzt gewirkt hat. Wenn der Tierarzt da war, wurde nachher alles gut. Der Tierarzt konnte Dinge, die andere nicht konnten. Das wollte ich auch.
Haben sich Ihre Erwartungen an diesen Beruf erfüllt?
Im grossen Ganzen schon, ja. Ich wollte ja immer mit Nutztieren arbeiten. Und vieles, was ich als Junge dachte, das ich dann einmal machen würde, konnte ich später auch tun. Doch der Beruf hat sich im Lauf der Zeit stark verändert.
Inwiefern?
In einer Praxis wie der unsrigen kommt noch viel anderes dazu: Buchhaltung, Personalwesen, Betriebsführung. Früher war ein Tierarzt ein Einzelkämpfer, der den Beruf zusammen mit seiner Frau ausgeübt hat. Wie meine Vorgänger im Saanenland auch. Heute sind wir ein Team von zehn Leuten. Mindestens 30 Prozent meiner Arbeit verrichte ich heute im Büro. Betriebsführung ist etwas, das wir im Studium nicht gelernt haben.
Haben sich auch die Anforderungen den Tieren gegenüber geändert?
Das Berufsspektrum ist viel breiter geworden, bei Nutztieren wie bei Kleintieren. Es gibt viel mehr bekannte Krankheiten mit zahlreichen neuen Behandlungsmethoden. In Randregionen wie dem Saanenland machen alle noch alles. Wir sind nicht spezialisiert auf Augen, Beine oder Füsse. Wir sind Grundversorger. Bei den Nutztieren können wir viele Behandlungen und Operationen vor Ort durchführen. Bei den Kleintieren bieten wir ebenfalls eine breite Palette von Diagnostik, Behandlungen und Operationen an. Alles, was aber schwieriger und aufwendiger ist, schicken wir an spezialisierte Kliniken. Man kann unmöglich alles im Kopf haben, wenn man sämtliche Sparten vom Rindvieh übers Pferd bis zur Ziege und den Kleintieren abdecken muss. Dazu kommt, dass wir einen Rund-um-die-Uhr-Notfalldienst aufrechterhalten und finanzieren müssen.
Das geht ins Geld...
Richtig. Wir rechnen mit jährlich rund 6000 Arbeitsstunden, in denen wir neben der normalen Arbeitszeit zusätzlich Notfalldienst leisten. Da reichen 100’000 Franken nicht aus. Das kann mit der Humanmedizin verglichen werden. Da will auch niemand mehr Notfalldienste anbieten, weil es kaum noch bezahlbar ist. Und in der Tiermedizin gibt es notabene keine obligatorische Krankenkasse, das heisst, wir müssen alles über die Tarife finanzieren. Unser Motto heisst: kostendeckend arbeiten.
Also sind enormer Arbeitsaufwand und Spardruck die beiden grossen Herausforderungen in Ihrem Beruf?
Ja, zusammen mit dem Fachkräftemangel sind es drei. Früher hatte ich auf ein Stelleninserat fünf Bewerberinnen, heute oft keine einzige mehr. Das liegt auch daran, dass viele Studienabgänger den Beruf wechseln.
Wie könnte man das ändern?
Krankenkassen für Tiere wären eine Möglichkeit. Staatliche Subventionen wurden in unserem Berufsverband auch schon diskutiert, aber das finde ich nicht gut. Vielleicht muss man die Tarife nach oben korrigieren, aber wer will das dann noch bezahlen?
In der Konsequenz könnten mehr Tiere euthanasiert statt behandelt werden als bisher, was wiederum den Tierärztinnen und Tierärzten aufs Gemüt schlagen könnte.
Ich bin wie gesagt auf einem Bauernhof aufgewachsen, für mich gehört das dazu. Wenn ich als Tierarzt zu einem Nutztier komme, kann ich es entweder heilen oder es wird geschlachtet. Damit kann ich gut umgehen. Aber ich weiss, dass dies in Kleintierpraxen anders ist und meine Assistentinnen würden vielleicht auch etwas anderes sagen. Auch bei uns wird sicher alle zwei Tage ein Tier eingeschläfert. Aber wir haben im Haus immer die Möglichkeit, im Bedarfsfall die Zweitmeinung einer Kollegin einzuholen. Auch das ist ein grosser Vorteil, wenn man so im Team arbeiten kann.
Laut einer Studie ist der psychische Druck, der auf Tierärzten und -ärztinnen liegt, enorm hoch. Viele verlassen den Job oder scheiden freiwillig aus dem Leben.
Ich weiss von solchen Studien, kenne aber niemanden persönlich, der oder die deswegen Suizid begangen hat. Aber ich weiss von vielen, die nicht mehr in der Praxis arbeiten. Unser Studium lässt einem viel Freiraum, ob man in eine Praxis, in die Industrie, in die Naturwissenschaften oder auch zum Bund gehen will. Mit einem abgeschlossenen Tiermedizinstudium haben Sie sehr viele Möglichkeiten.
Haben Sie auch schon einmal mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeissen?
Nein, ich ganz bestimmt nicht! Dafür bin ich viel zu gerne Tierarzt. Aber ich bin auch froh, dass ich nicht mehr so getaktet arbeiten muss, wie es meine Vorgänger noch getan haben. Wir sind hier ein grosses Team und können Nachtdienste, Wochenenddienste und Pikett aufteilen und abfedern.
Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie heute noch einmal Tiermedizin studieren?
Ja, auf jeden Fall! Es gibt sehr viel Schönes in diesem Beruf. Zum Beispiel, wenn ich bei der Geburt eines Tieres helfe, oder wenn ich gerufen werde, weil es einem Tier schlecht geht. Dann komme ich, behandle es, und wenn ich gehe, geht es dem Tier wieder gut und der Kunde ist zufrieden. Das ist sehr befriedigend.
Daraus können Sie Energie schöpfen?
Ich auf jeden Fall. Das macht mich froh – und ich bekomme auch noch Geld dafür! Letzthin habe ich im Internet folgenden Spruch gelesen: «Der Tierarzt ist da, jetzt wird alles wieder gut!» Für mich ist das immer noch eine grosse Motivation, diesen schönen Beruf auszuüben!