«Es sind nicht die Mathestunden, die im Gedächtnis bleiben»

  19.06.2020 Gstaad, Schule, Soziales

Die Schülerinnen und Schüler der 3. und 4. Klasse der Schule Rütti in Gstaad müssen sich mit dem zu Ende gehenden Schuljahr von ihrer Klassenlehrerin Renate Bach verabschieden. Bei der Übergabe des luftigen Abschiedsgeschenks am Dienstag bot sich die Gelegenheit, der Lehrerin, die 42 Jahre lang im Lehrerberuf tätig war, einige Fragen zu stellen.

JENNY STERCHI

Frau Bach, wollten Sie immer schon Lehrerin werden?
Ich wusste seit der dritten Klasse, dass ich Lehrerin werden wollte. Mein Vater hätte sich gewünscht, dass ich Tierärztin werden solle. Aber ich liess mich nicht von der Lehreridee abbringen. Zu viel Freude bereitete es mir, kleine Heftchen zu basteln und extra Fehler hineinzuschreiben, um diese dann korrigieren zu können. Wobei das Korrigieren in der letzten Zeit für mich an Attraktivität verloren hat.

Wenn eine Lehrerin 42 Jahre lang im Schuldienst tätig ist, wird sich die Schulsituation im Laufe der Zeit verändert haben. Welche Veränderungen haben Sie wahrgenommen?
Es hat sich ganz klar einiges verändert. Die Individualisierung und Heterogenität in den Klassen haben ganz deutlich an Bedeutung gewonnen und ihre Spuren im Schulalltag hinterlassen. Nicht zu vergessen die Digitalisierung, die besonders in den letzten Wochen eine so zentrale Rolle gespielt hat. Und die Kinder sind mit der sich entwickelnden Gesellschaft anders geworden. Dabei gibt es kein Besser oder Schlechter. Ich beobachte, dass die Kinder sich zum Teil heute weniger gut und lang konzentrieren können. Dagegen stehen heute Vorträge und Präsentationen schon früh im Lehrplan. Und so gehören diese Aufgaben für viele Schülerinnen und Schüler zur gesamten Schullaufbahn. Ich kann mich zum Beispiel gut erinnern, dass ich meinen ersten Vortrag in der achten oder neunten Klasse hatte und gebibbert habe vor Aufregung. Heute stehen Zweitklässler vor der Klasse und haben kein Problem damit, ein Bilderbuch vorzustellen.

Konzentration ist aber ein zentraler Bestandteil im Schulunterricht. Wie haben Sie es bei der von Ihnen erwähnten Entwicklung geschafft, die Konzentration aufrechtzuerhalten?
Ich habe probiert, den Kindern Unterstützung zu bieten. Kann ein Kind sich nicht fokussieren, kann es häufig seine Leistungen nicht abrufen und zum Beispiel in den Tests nicht sein tatsächliches Niveau zeigen. Gemeinsam mit Lehrkräften und Heilpädagogen können die Kinder dort wieder hingeführt werden, auch wenn es Zeit in Anspruch nimmt.

Wenn ein Kind Sie fragen würde, ob es den Lehrerberuf wählen soll, wie würde Ihre Antwort lauten?
(lacht) Ich würde sagen: «Ja sicher, das ist wunderbar. Es braucht nach wie vor viele Lehrerinnen und Lehrer.»

Gibt es irgendein Erlebnis mit den Schulkindern, das Ihnen bis heute geblieben ist?
Ich war zum Beispiel immer Fan von Ausflügen. An die Landschulwochen, die ich jeweils durchgeführt habe, werde ich mich immer erinnern. Auch die Projekte, die im Schulhaus mit allen Kindern und häufig auch in Zusammenarbeit mit Markus Walther als damaligem Leiter der Heilpädagogischen Schule Gstaad umgesetzt wurden, haben ebenfalls nachhaltig gewirkt. Und besonders gern habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern Theaterproduktionen einstudiert, egal ob Schattenspiel oder Stabpuppenspiel. Die letzte Klasse hat sogar selber eine Szene entwickelt. Das war sehr cool. Ich bin überzeugt, dass es nicht die Matheund Deutschstunden sind, die bei den Kindern im Gedächtnis bleiben. Aber um das kommt halt kein Schulkind herum. All die Kreativsachen kommen dann als Zückerli hinzu und bleiben im Kopf.

Aber all diese Sachen bedeuten ja auch Mehraufwand für die Lehrperson. Häufig ist zu hören, dass die Stundenvorbereitung zeitintensiv ist und wenig Raum für Kreativprojekte bleibt.
Aber genau diese Investition lohnt sich in jedem Fall. Wenn man den Kindern so was bietet, fressen sie einem quasi aus der Hand.

Was macht Renate Bach am ersten Tag des neuen Schuljahres?
Ich werde vermutlich auf irgendeinem Berg sein und an meine Lehrerkollegen denken. Ganz sicher werde ich den Ruhestand geniessen, denn ich hatte genug Zeit, um mich auf diese Phase meines Lebens vorzubereiten. Wenn es nötig wird, komme ich als Stellvertretung hier und da ins Schulhaus zurück. Wer mich und meine Ideen kennt, weiss, dass es mir ganz sicher nicht langweilig wird.

Und was haben Sie nun als Abschiedsgeschenk bekommen?
Die Kinder haben mir einen Gleitschirmflug geschenkt. Und ich freue mich riesig. Eigentlich sollte ich schon heute Nachmittag in die Luft gehen, aber das Wetter hat nicht mitgespielt. Und ich sehe diese Geste keinesfalls als Selbstverständlichkeit. Dass die Kinder und ihre Eltern sich so ins Zeug legen, um mich schön und herzlich aus dem Schuldienst zu verabschieden, ist für mich etwas ganz Besonderes.


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