Leinanbau auf über 1000m über Meer

  01.09.2022 Landwirtschaft, Natur, Saanen, Landwirtschaft, Pays-d'Enhaut

Drei Landwirtschaftsbetriebe haben Flachs angebaut, damit einst Bergleinen aus dem Saanenland und Pays-d’Enhaut auf den Markt kommen. Doch ist dies nur ein Punkt eines gesamtheitlichen Pilotprojekts, welches mehrere soziale und nachhaltige Ziele verfolgt.

JOCELYNE PAGE
«C’est sympa, eh?», fragt der gebürtige Neuenburger André Grossmann, als er vor dem 1500 Quadratmeter grossen Leinfeld in Château-d’Oex steht. Es ist ein warmer Julitag. Die Sonne scheint auf die hochgewachsenen Pflanzen, die hellblauen Blüten stechen heraus. «Es ist wie ein Postkartenbild», schwärmt er. Drei Landwirtschaftsbetreiber – Pierre-François Mottier, Gross- und Gemeinderat in Château-d’Oex, Lotti und Peter Moor in Gstaad-Grund und Marco Schopfer in Saanen – haben sich dazu bereit erklärt, für ein Pilotprojekt Lein auf einer Fläche von insgesamt 4000 Quadratmetern anzubauen. André Grossmann ist der Initiant, der die alte Schweizer Tradition des Leinanbaus in Berggebieten fortführen will. Unterstützt wird er von Noëlle de Kostine. «Sie ist die Gotte des Bergleinens», sagt Grossmann.

Leinen ist eine der ältesten Textilfasern der Welt. Ein Blick ins historische Lexikon der Schweiz zeigt: Bereits ab dem 11. Jahrhundert etablierte sich in St. Gallen das Leinwandgewerbe. Um 1600 folgte im Kanton Bern ein Leinwandproduktionsgebiet im Emmental und Oberaargau.

Nachhaltigkeit auf dem Feld
André Grossmann ist es ein grosses Anliegen, dass der Lein – auch bekannt als Flachs – nachhaltig angebaut wird: Keiner der Landwirtschaftsbetriebe nutzt Pestizide oder ähnliche chemische Schädlingsbekämpfungsmittel. Die Landwirtinnen und Landwirte profitieren wiederum vom Flachsanbau: Durch die Aussaat einer anderen Kultur entsteht eine ausgewogene Fruchtfolge. Eine Monokultur wird damit vermieden und der Boden bleibt vitaler.

Ein ökologischer Anbau ergibt laut Hans Ramseier durchaus Sinn, denn der Flachs könne «mit sehr wenig Input angebaut werden». Der Dozent für Pflanzenschutz und ökologischen Ausgleich an der Berner Fachhochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) unterstützte Grossmann als Berater beim Anbau. Als Teil des Schweizer Unternehmens Swiss-Flax, welches selbst Garn aus Lein herstellt und verschiedene Produktionsfirmen damit beliefert, hat er einige Erfahrungen gesammelt.

Konventionell werde beim Flachsanbau eine Herbizidbehandlung gemacht, ansonsten werde kein Pflanzenschutz verwendet. «Der Düngereinsatz ist sehr moderat und Lein muss nicht bewässert werden. Zudem kann die Faser mithilfe der natürlichen Tauröste (siehe Kasten) rein mechanisch aufgeschlossen werden», erklärt Ramseier. Wenn man den Anbau mit Baumwolle vergleiche, sei Lein sehr viel umweltschonender und komme mit einem Bruchteil des Inputs an Dünger und Pflanzenschutz aus.

Der Anbau im Berggebiet
Normalerweise wächst Flachs allerdings im Flachland in tieferen Lagen. Kann die Pflanze hier ihre volle Vegetation entfalten? Grundsätzlich ja, meint Ramseier. Flachs eigne sich gut, um in höheren Gebieten wie im Berner Oberland angebaut zu werden. Allerdings sei die Vegetationszeit in Berggebieten deutlich kürzer, weshalb sich nicht alle Sorten von Lein anbauen lasse. «Ein limitierender Faktor für grösserflächigen Anbau ist sicher auch, dass in der Bergzone weniger ebene oder nur leicht geneigte Flächen vorhanden sind. Steile Flächen gehen nicht für die maschinelle Ernte», erklärt Ramseier.

Marco Schopfer hat in Saanen ein Teil seiner Anbaufläche für ein Leinfeld zur Verfügung gestellt. Beim Anbau sei wichtig, das Unkraut im Auge zu behalten. Doch sonst hat er die gleichen Erfahrungen gemacht wie Ramseier: Die Pflanze sei relativ unkompliziert. «Sie ist fast zu gut gewachsen», schildert Schopfer die Entwicklung auf seinem 1000 Quadratmeter grossen Feld. Durch das schnelle Wachstum habe der Flachs unerwartet früh eine bestimmte Grösse erreicht. Die stärkeren Gewitter im Juni hätten den Pflanzen deshalb etwas zugesetzt, erzählt Schopfer.

Der geerntete Flachs wird schliesslich in den Norden von Frankreich transportiert, um zu Bergleinen weiterverarbeitet zu werden. «In der Schweiz ist die Leinenproduktion nicht sehr verbreitet und daher auch das Angebot klein», erklärt Grossmann. Er plant in einer späteren Phase aus dem gewonnenen Stoff Accessoires wie Rucksäcke und Gürtel sowie Kleider anfertigen zu lassen. «Das Design der Produkte soll an die wunderbare Region des Saanenlandes und Pays-d’Enhaut erinnern.»

Der Umweltaspekt
Gelingt das erste Anbaujahr, soll das Projekt erweitert werden. «Ziel wäre es, am Ende einen Hektar Anbaufläche zu erreichen», schildert Grossmann seine Ambitionen. Zudem wolle er nicht nur Faserlein anbauen, wie auf den aktuellen Feldern, sondern auch Öllein. Diese Pflanze wird zur Gewinnung von Leinsamenöl gebraucht und enthält einen hohen Gehalt an Omega-3-Fettsäuren. Schon heute gibt es Landwirtinnen und Landwirte, die ihrem Rindvieh eine bestimmte Menge an Leinsamen ins Futter geben. «Die Gesundheit der Tiere und damit auch die Qualität der Milch und des Fleischs verbessern sich», sagt Grossmann.

Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist die Reduktion der Methanemission in der Landwirtschaft: Laut einer Studie von Agroscope (Schweizer Forschung für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt) produzierten Kühe, die thermisch vorbehandelte Leinsamen verzehrten, sieben Prozent weniger Methan pro Tag. Eine Reduktion des Gases würde der Umwelt gut tun, denn laut dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) hat die Schweizer Landwirtschaft 2020 etwas mehr als sechs Millionen Tonnen CO2-Äquivalente an Treibhausgasemissionen produziert und damit 14,6 Prozent zu den gesamten Schweizer Emissionen beigesteuert – rund zwei Drittel davon bestanden aus Methan. «Mit den Samen könnten wir einen Beitrag zum Umweltschutz leisten», sagt Grossmann.

Je nach Wetterlage wird der Flachs Ende August beziehungsweise Anfang September auf den Feldern gerauft und für die Tauröste ausgelegt. Es wird sich zeigen, wie sich der Bergleinen weiterentwickelt.


DIE BESONDERE ERNTE

Der Flachs muss auf eine besondere Weise geerntet werden. So darf er nicht abgeschnitten werden, sondern die Pflanze muss samt der Wurzel aus dem Boden gezogen werden. Dies nennt sich raufen. Der Grund: Beim Mähen werden die Fasern zerstört, was sich negativ auf die spätere Stoffproduktion auswirken kann. Ist der Flachs geerntet, wird er für die Tauröste flach auf dem Feld verteilt: Durch die Abwechslung von Tau, Sonne und Regen und durch Pilze und Bakterien wird die Bindung zwischen den Faserbündeln und dem sie umgebenden Gewebe gelöst. Es ist ein natürlicher Prozess, der ohne Chemie oder andere Hilfsmittel funktioniert. Ist die Röstreife erreicht, ist die Ernte bereit für die Weiterverarbeitung zu Leinen.


DEM KONGO HELFEN

Mit dem Bergleinen-Projekt verfolgt André Grossmann eine globale Strategie. Mit einem Teil des Gewinns, den er durch den Verkauf der zukünftigen Bergleinen-Produktlinie generiert, will er in soziale Projekte seiner eigenen Stiftung Amani Time investieren. Da er mit einer kongolesischen Staatsbürgerin verheiratet ist und zwölf Jahre lang in der Demokratischen Republik Kongo lebte, hat er eine enge Verbindung zu diesem Land. Die Situation vor Ort ist seit Jahren angespannt. Obwohl das Land einen aussergewöhnlichen Rohstoffreichtum besitzt, ist die jüngste Geschichte des Staates von Bürgerkrieg und Korruption geprägt. Der Krieg forderte bis zu sechs Millionen Menschenleben, wie das britische Medium BBC schreibt – entweder als direkte Folge der Kämpfe oder aufgrund von Krankheiten und Unterernährung. Grossmanns Ziel ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Dies will er erreichen, indem er vor Ort ein Berufsschulzentrum aufbaut. Wie er erzählt, sollen all die Berufsausbildungen angeboten werden, die in Kontakt mit Leinanbau und -produktion in Berührung kommen, beispielsweise Landwirtschaft, Mechanik, Administration und Detailhandel. Zeitgleich plant der Projektverantwortliche, Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Absolventinnen und Absolventen auch eine Arbeit finden. «Wir wollen eine eigene Industrie etablieren», erklärt er. Grossmann wird dabei vor Ort durch den erfahrenen Ingenieur und Agronomen Charles Themistocle unterstützt.


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