Der Seiltuchknüpfer aus dem Obersimmental
27.02.2023 Nachbarschaft, Nachbarschaft, Obersimmental, Tradition, BrauchtumWenn seine Tätigkeit auch selten ausgeübt wird, gibt es doch noch einen Seiltuchknüpfer im Berner Oberland – er ist in Eschi bei Boltigen im Simmental zu Hause. Im Gespräch erzählt Adolf Treuthardt viel aus seinem Leben und der Vergangenheit des ...
Wenn seine Tätigkeit auch selten ausgeübt wird, gibt es doch noch einen Seiltuchknüpfer im Berner Oberland – er ist in Eschi bei Boltigen im Simmental zu Hause. Im Gespräch erzählt Adolf Treuthardt viel aus seinem Leben und der Vergangenheit des einzigartigen Handwerks, das er in seiner Freizeit betrieben hat. Heute ist das Knüpfen für den kontaktfreudigen Rentner ein Hobby, bei dem er nicht nur Seile verarbeiten, sondern auch Kontakte knüpfen und pflegen kann.
VRENI MÜLLENER
Das Knüpfen von Seiltüchern, wie diese Netze im Simmental genannt werden, hat in der Familie Treuthardt eine lange Tradition. Bereits sein Grossvater Gottlieb Tochtermann knüpfte Seile zu Tüchern oder zu «Seilgare», wie diese Hilfsmittel zur Heuernte in Jaun oder im Saanenland bezeichnet werden. Später übernahm Adolf Treuthardt Senior das Wissen seines Schwiegervaters. Tochtermann wie auch Treuthardt fuhren mit ihrer Ware an die Märkte im Simmental, Saanenland und bis nach Spiez. Dort waren sie bekannt und wurden von ihren Kunden mit offenen Armen erwartet.
Leider kam es nicht soweit, dass Adolf Treuthardt seinen Sohn genau ins Handwerk einführen konnte, er verstarb zu früh. Dennoch war der junge Adolf interessiert, sich diese Fertigkeit anzueignen, lange genug hatte er zugeschaut. Seine Mutter Marie Treuthardt-Tochtermann war ihm bei diesem Vorhaben eine hilfreiche Stütze, wuchs sie sozusagen zusammen mit diesem Handwerk auf.
Heute werden Seiltücher nicht nur für den althergebrachten Transport von Bergheu verwendet, sie dienen auch dazu, eine Ladung auf einem Anhänger oder Pick-up zu sichern. Bei den Transportflügen mit dem Helikopter werden aus Sicherheitsgründen stärkere Seile verwendet.
Die Hanfseile besorgt sich Adolf Treuthardt seit jeher im Unterland, in den vergangenen Jahren bei der Seilerei Berger in Laupersdorf. Seit Längerem ist der gelernte Käser im Besitz einer grossen Menge feinem Kunststoffseils. Die hat der ehemalige Bundesangestellte auf einer Lastwagentour nach Jaberg vor der Zerstörung in der Kehrichtverbrennungsanlage «gerettet».
Exaktes Arbeiten mit einfachen Hilfsmitteln
Mit Holzlatten, die schon sein Grossvater benützt hat, stellt Treuthardt ein Gerüst auf, damit er genau arbeiten kann. Immer an der richtigen Stelle sind Schrauben angebracht, damit die Netze schön regelmässige Abstände bekommen. Zuerst wird ein Umseil in der gewünschten Grösse (zweimal Breite plus zweimal Länge) aufgespannt. In den oberen Ecken werden zwei «Züeli» (Bindseile) angeknüpft und mit «Trüegle» aus Holz versehen. 84m dünnes Seil wird auf die Schere (ähnlich einem Weberschifflein) gewickelt, und dann kann das Seiltuchknüpfen von oben links nach rechts und wieder zurück, losgehen. In regelmässigen Abständen legt der geübte Handwerker gleich grosse Schlingen, die in der zweiten Tour verknüpft werden. Nach knapp eineinhalb Stunden kann der Seiltuchknüpfer sein Werk abhängen und zusammenbinden.
Vom Oberland bis zur Innerschweiz und ins Wallis
Die Seiltücher werden in drei verschiedenen Grössen hergestellt. Pro Jahr kann Treuthardt im Durchschnitt zwölf Stück verkaufen. Je nach Grösse verlangt er 100 bis 135 Franken dafür. Die Seiltücher werden im Berner Oberland eingesetzt, aber auch in der Innerschweiz und im Wallis finden sie Verwendung, um «Heupüntel» zusammenzubinden. Im Obersimmental und Saanenland wurden sie während Jahren über die Landwirtschaftlichen Genossenschaften verkauft. «Meine Frau Erika und ich fuhren nur noch auf den ‹Boltigmärit›, beschreibt Adolf die Veränderungen in neuerer Zeit. Im Fermeltal fänden die im Bergheuet unentbehrlichen Hilfsmittel immer noch dankbare Abnehmer, sonst sei die Nachfrage zurückgegangen.
Kleine Nachahmung findet Gefallen
Seit ein paar Jahren füllt Treuthardt mit seiner Technik, Seile zu knüpfen, eine Marktlücke. Kleine Netze, auf die gleiche Art und Weise angefertigt, finden grossen Anklang und sind für originelle Dekorationen sehr gefragt. Das fertige Stück misst 40 cm mal 40 cm und wirkt aufgespannt an einer Wand sehr urchig und doch fein. Mit kleinen «Wäscheklämmerli» können Erinnerungsfotos oder Ansichtskarten hübsch präsentiert werden.
Der bald 74-jährige Grossvater hofft, noch einige Seiltücher eigenhändig herstellen zu können. Dennoch macht er sich Überlegungen, wem er sein Wissen vermitteln könnte – die Chancen stehen gut, dass das Handwerk innerhalb der Familie weitergegeben werden kann.