Ein Monument der Musikgeschichte
21.08.2023 , Saanen, Konzert, KulturBeim Gstaad Menuhin Festival jagen sich die musikalischen Höhepunkte. Die Aufführung der 2. Sinfonie von Gustav Mahler setzte der diesjährigen Konzertreihe eine neue Krone auf, denn das Werk sprengt jedes bekannte Format sowohl in der Länge als auch im Umfang des ...
Beim Gstaad Menuhin Festival jagen sich die musikalischen Höhepunkte. Die Aufführung der 2. Sinfonie von Gustav Mahler setzte der diesjährigen Konzertreihe eine neue Krone auf, denn das Werk sprengt jedes bekannte Format sowohl in der Länge als auch im Umfang des Orchesters und der Singstimmen.
KLAUS BURKHALTER
Der Aufmarsch der Musiker:innen wollte kaum aufhören – es war ein echtes Schauspiel für das Publikum, die Vielfalt an Instrumenten bewundern zu können. Die Bühne des Festivalzeltes war schlussendlich total belegt vom Dirigentenpult bis zu den hintersten Reihen des grossen Chores. Das breit aufgefächerte Riesenorchester mit weit über 100 Musizierenden bot sich wie ein Lehrbuch der Instrumente an und packte die Zuhörerschaft mit seinen differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten vom ersten Ton an.
Die «Auferstehungssinfonie»
Die Entstehungsgeschichte der gesamten Sinfonie erstreckte sich, bedingt durch Gustav Mahlers (1860–1911) Arbeitsbelastung als Dirigent über mehrere Jahre. 1888 hatte er bereits den ersten Satz komponiert, die sogenannte «Totenfeier». Erst nach seinem Stellenantritt in Hamburg folgten 1893 die zwei nächsten Sätze. Die Inspiration zum Schlusssatz, der «Auferstehungsidee», kam Mahler erst bei der Totenfeier für den Musiker Hans von Bülow, bei der er die Ode des deutschen Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock hörte. Das Auferstehungsthema wird durch alle Register des Orchesters weitergereicht, doch Mahler kam erst mit dem Einsatz der menschlichen Stimmen zum Ziel, mit zwei Solistinnen und einem grossen Chor. Die Uraufführung der gesamten Sinfonie fand 1895 in Berlin unter der Leitung des Komponisten statt. Die Beurteilungen für das grosse Werk waren verhalten bis spöttisch, doch das Publikum jubelte. Mahler prägte den Übergang von der Spätromantik zur Moderne. Wenn er auch zuerst auf Desinteresse und Unverständnis stiess, drückte er einmal aus: «Die Zeit für meine Musik wird noch kommen.» Die 2. Sinfonie begründete aber Mahlers Ruhm als Komponist. Sie ist heute in klanglicher Hinsicht kaum noch revolutionär, sie ist beliebt, nur die Dimensionen gelten immer noch als ungewöhnlich gross.
Viele Zuhörende des Gstaader Konzertes hatten wohl zuvor den Komponisten Mahler nicht gut gekannt und waren gespannt auf das kommende Werk. Sie sollten bald von der Musik gepackt werden.
Eine gewaltige Fülle von Eindrücken
In fünf Kapiteln vertonte Mahler also den Weg von der Totenfeier bis zur Idee der Auferstehung. Enorm starke Gegensätze prägten den ersten Satz: Da führte das grosse Bassregister wuchtig, total exakt ins Geschehen ein, gefolgt von einem äusserst weichen Thema, immer abgelöst von unglaublich starken Gesamteinwürfen. Da hörte man tröstend-beruhigende Harfenklänge, aber auch ohrenbetäubende Erschütterungen mit Pauken und Blechbläsern, ein steter Wechsel zwischen Dramatik und Lieblichkeit. Ein marschähnliches Thema führte absteigend zum berührend stillen Schluss.
Im zweiten und dritten Satz folgten lockere, oft fast gemütlich-volkstümliche Klänge mit weichen Streichertönen, aufjubelnden Bläsern, einem gezupften Intermezzo gefolgt von einem durch einen Knall eröffneten Scherzo. Exakt wie aus einem Guss eilten die Instrumente tänzerisch durch die liedhaften, fliessenden Melodien.
«Urlicht» nennt Mahler seinen vierten Satz. Er basiert auf einem Gedicht aus der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn», bei dem die Altstimme von Catriona Morison die grosse Ruhe schlicht und einfühlsam ausdrückte, den Gedanken des ewigen Lebens als Verbindung der beiden grossen Ecksätze von Totenfeier und Auferstehung.
Dieser letzte Teil begann mit einem rein orchestralen Teil, aus dem Nichts aufgebaut, aufwärts zum Licht strebend: Wie grossartig war dieses anschwellende Gewitter, meisterhaft in allen Phasen, oft sensibel-ruhig, dann wieder teuflisch-bewegt, knallend. Fanfaren erklangen von einem Nebenorchester, nun fügten sich die Singstimmen ein, der Chor der Zürcher Singakademie und die beiden Solistinnen. Auch die für die verhinderte Pretty Yende eingesprungene Kateryna Kasper konnte jetzt ihre intensive, tragende Stimme entfalten. Und der Chor entpuppte sich, plötzlich aufstehend, zum stimmgewaltigen Ausrufer des Auferstehungsthemas. Er gestaltete den Sinfonieabschluss eindringlich, ausdrucksstark und differenziert. Man hätte ihm, wie auch den Solistinnen, eine längere Präsenz gegönnt …
Nun steigerte sich die Musik in Geschwindigkeit, Dynamik und Lautstärke zum finalen Höhepunkt mit der Aussage «Was du geschlagen, zu Gott wird es dich tragen». Mit einem mächtigen Akkord endete das orchestrale Nachspiel der gewaltigen Sinfonie.
Eine Interpretation der Superlative
Absolute Weltklasse aller Ausführenden ist die Voraussetzung zur Einstudierung dieses Werkes, dazu Spielfreude auf einem Topniveau. Was das Gstaad Festival Orchestra an diesem Abend bot, war schlichtweg phänomenal. Vom gewaltigen Orchesterorkan bis zu verspielten Soli bei Streichern und Bläsern, bei allen an- und abschwellenden Passagen, in den enorm rasanten, virtuosen Läufen und den rhythmisch höchst schwierigen Takt- und Stimmungswechseln: Der riesige Klangkörper meisterte alle Schwierigkeiten und ging auf die Intentionen seines Chefs ein.
Ja, und dieser Jaap van Zweden bot wiederum ein absolutes Meisterstück seiner Dirigierkunst. Mit grosser Ernsthaftigkeit ging er ans Werk, er gab aber auch Raum für Lebensfreude. Er hielt die Klangmasse in Schach, das Zusammenspiel funktionierte famos, manchmal mit spärlicher Gestik, dann wieder mit markanter Zeichengebung. Der Maestro führte, spornte an, beruhigte, schwang mit, gab alle Einsätze. Er war Koordinator und Seele dieser Sinfonieinterpretation.
Natürlich war die Begeisterung des Publikums riesig. Mit Standing Ovations und Jubelrufen drückte es seine Freude aus. Ob es wohl später draussen etwas kühlere Temperaturen gefunden hat? Die fantastische Musik hatte aber im Innern eindeutig über die Zelthitze gesiegt!