Können wir uns noch sicher in den Bergen bewegen?

  01.09.2022 Natur, Sport, Saanenland, Natur

Die einheimischen Bergführer:innen raten zurzeit von der Matterhornbesteigung ab. Der Grund: Steinschlaggefahr. Der Auslöser: hohe Temperaturen, wenig Niederschlag, auftauender Permafrost. Wie sieht es auf den Bergen im Saanenland aus? Gibt es ähnliche Gefahren? Wir haben bei Peter Sollberger, Präsident des Bergführervereins Gstaad-Lenk, nachgefragt.

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Als einer der bekanntesten Berge war das mediale Interesse am Matterhorn natürlich gross, als die Zermatter Bergführerinnen und Bergführer im Juli mitteilten, dass sie keine Touren mehr auf den Berg anbieten. Wegen des schneearmen Winters, langer Perioden hoher Temperaturen und fehlender Niederschläge hat sich das Schneefeld vor dem Gipfel aufgelöst, erklärte Roman Haltinner, Präsident des Walliser Bergführerverbands, vergangenen Monat im «St. Galler Tagblatt». «Weil der Gipfel wegen der hohen Temperaturen aktuell völlig schneefrei ist, können losgetretene Steine tiefer kletternde Seilschaften gefährden.» Die Hauptgefahr sei und bleibe der Steinschlag, der in über 90 Prozent der Fälle von Bergsteigern ausgelöst werde und damit menschengemacht sei. Jeder Bergsteiger und Bergführer müsse deshalb selbst entscheiden, ob das Risiko für einen selbst und die Mitmenschen vertretbar sei.

«Das Matterhorn ist keine Ausnahme», sagt Peter Sollberger, erfahrener Bergführer und Präsident des Bergführervereins Gstaad-Lenk. Über die letzten Jahre habe sich die Situation verschärft: Gewisse Zustiege auf Gipfel von 4000m über Meer seien anspruchsvoller geworden. «Die Schneedecke schmilzt weg, die darin eingeschlossenen Steine gelangen an die Oberfläche. Kommen diese ins Rollen, wird es gefährlich.» Die Routen über Gletscher seien steiler, Bergschründe – die Spalten zwischen dem Eis des Gletschers und des Felses – grösser geworden. «Bei manchen Gletschern tun sich Spalten in vertikaler und horizontaler Richtung auf, beispielsweise beim Geltengletscher», schildert Sollberger seine Beobachtungen.

Eine weitere Gefahr: der auftauende Permafrost – Boden wie Fels, Schutt und Moräne, die dauernd Temperaturen unter null Grad Celsius aufweisen. Wie das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) schreibt, wird der Permafrost stark durch die Sonneneinstrahlung, die Mächtigkeit und die Dauer der Schneebedeckung beeinflusst. Wenn das Permafrosteis in Folge klimatischer Veränderungen schmilzt, kann der Boden an Stabilität verlieren.

Vorsicht beim Wildhorn
Gibt es im Saanenland auch Berge, die Alpinisten mit Vorsicht geniessen sollten? «Vereinzelt», sagt Sollberger. «Der Aufstieg auf das Wildhorn ist beispielsweise nicht ohne, dies je nach Route. Bei mehreren Passagen findet man das geschilderte Problem mit apernden Schneefeldern und hervorkommenden Steinen vor.» Der Weg sei sandiger, mit Geröll bedeckt und dadurch auch anstrengender zum Wandern. Der danebenliegende Tungelgletscher habe ebenfalls durch die klimatischen Gegebenheiten gelitten. Der Aufstieg auf den Glacier de Téné sei steiler geworden und sei mit losen Steinen bedeckt, die jederzeit abrutschen können. Die gleiche Situation sei auch teilweise um den Gipfelbereich anzutreffen, dies ebenfalls je nach Routenwahl. «Auch für die Spalten um den Gipfel auf der Walliser Seite braucht es einen gewissen Spürsinn, um unversehrt auf den Gipfel zu kommen», erklärt Sollberger.

Der Aufstieg auf voralpine Gipfel wie Gummfluh, Oldenhorn, Gifferhorn und Spitzhorn sei weniger problematisch, erklärt Sollberger. «Die liegen fast zu tief, um betroffen zu sein. Diese Berge sind oftmals grasdurchsetzt und weisen deshalb mehr Stabilität auf.» Trotzdem: Bei Starkregen seien auch diese Berge gefährdet. «Murgänge werden ausgelöst, Wanderwege weggespült. Dies ist leider in den letzten Jahren vermehrt vorgekommen», erklärt der Bergführer.

Vorbereitung ist alles
Eine intensive Vorbereitung auf eine Hochtour ist bei diesen klimatischen Herausforderungen deshalb unabdingbar. Die Temperaturen und Niederschläge der letzten Tage, aktuelle Erfahrungsberichte von Bergführern auf Online-Plattformen und Infos von Hüttenwarten und befreundeten Berufskollegen: Jede Information fliesse in seine Planung ein, erklärt Sollberger. Habe er am Tag X die Gewissheit, dass die Bedingungen günstig seien, trete er die Tour mit den Kunden an. «Damit ist es aber nicht getan. Während wir unterwegs sind, beobachte ich ununterbrochen die Umgebung und bleibe aufmerksam. Schlimmstenfalls kehre ich um, wenn die Gefahr von Steinschlägen oder ähnlichem zu gross ist.»

Es könne auch vorkommen, dass er eine Tour gar verschieben müsse, weil das Risiko zu gross sei, erklärt der Bergführer. Er schlage dem Kunden deshalb stets eine Alternative vor. «Das Verständnis ist meistens vorhanden, denn sie schätzen unseren Anspruch an die Sicherheit.» Problematischer werde es, wenn sich das Zeitfenster für die Besteigung diverser Gipfels verschiebe. «Sollte es weiterhin derart warme Sommer und schneearme Winter geben, müssen bestimmte Bergrouten im Frühling geplant werden, die man sonst normalerweise im August oder im September durchgeführt hat», mutmasst Sollberger. Finanzielle Einbussen könnten folgen. Oder die Saison wird kürzer und anstrengender: «Indem die Zeitfenster kleiner werden, könnten sich die Besteigungen stauen. Der Körper muss mithalten, wenn die Erholungszeiten für Bergführer kürzer werden.»

Das Richtige einpacken
Zu einer gewissenhaften Vorbereitung gehöre auch das richtige Equipment. «In den Bergen begegne ich immer wieder Leuten, die nur mit Turnschuhen, kurzen Hosen und T-Shirt eine hochalpine Wanderung auf sich nehmen», erzählt Sollberger. Diese Beobachtung mache er in den letzten Jahren häufiger und er vermute, dass die sozialen Medien nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung seien. «Sie sehen ein Foto eines Spitzenbergsteigers auf Instagram, wie er auf einem bestimmten Gipfel mit Turnschuhen posiert und leiten automatisch ab: Wenn der mit einfachem Schuhwerk da hoch kann, kann ich das auch. Ganz nach dem Motto: Möglichst leicht, möglichst schnell.» Physisch seien diese Personen fit und bereit, derartige Bergtouren zu machen, das stehe ausser Frage. «Sie sind aber auf Wetterumschläge oder Unfälle nicht vorbereitet, denn zum Teil haben sie weder Klettergurt, Steigeisen, lange Hosen, Jacke noch eine Apotheke dabei», sagt Sollberger. Seines Erachtens müsse jede Alpinistin und jeder Alpinist ein gewisses Minimum an Ausrüstung bei sich tragen, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Beobachter der Naturgefahren
Kunden ein unvergessliches Erlebnis zu bieten, ist die eine Rolle, die Bergführer:innen mit ihrer Tätigkeit ausüben. Die andere ist die des aufmerksamen Zeugen der Veränderungen in der alpinen Umwelt, wie Xavier Fournier, Mitglied des Zentralvorstandes des Schweizer Bergführerverbands (SBV) auf Anfrage dieser Zeitung schreibt. Daher würden Bergführer:innen oft von öffentlichen Einrichtungen als Beobachter von Naturgefahren eingestellt. «Diese verantwortungsvollen Aufgaben gab es schon lange im Bereich der Schneekunde und Lawinenrisikomanagements. Nun kommen die geologischen und hydrologischen Gefahren in ihre spezifische Ausbildung hinein», so Fournier.

Das Wesentliche des Bergführerberufs sei deshalb das «Risikomanagement», betont Xavier Fournier, der auch Beobachter der Naturgefahren für den Kanton Wallis ist. «Angesichts der sich ändernden Bedingungen müssen wir flexibel sein und unser Wachsamkeitsniveau ständig an die aktuelle Situation anpassen. Das Ziel ist es, die sichersten Wege zu finden.» In der zweiten Hälfte des Sommers würden Bergführer:innen zum Beispiel Nordwände meiden, die riskanter geworden seien. «Sie ändern oder verlassen auch Routen aufgrund von Felsstürzen und auftauendem Permafrost.»

Die Berge seien nicht tückischer als früher, versichert Xavier Fournier: «Steinschlag, Séracs (Anm. d. R.: Türme aus Gletschereis) und Lawinen hat es schon immer gegeben. Es liegt an uns, Strategien zu entwickeln, um in Harmonie mit den Bergen zu leben.»


WIE SIEHT DIE HEUTIGE AUSBILDUNG NEUER BERGFÜHRER:INNEN AUS?

Die klimatischen Gegebenheiten haben sich über die Jahre verändert. Zwar war das Hochgebirge immer schon gefährlich, wie der ETH-Glaziologe Matthias Huss gegenüber dem «Berner Oberländer» sagt. Bereits früher habe es Katastrophen durch Eisstürze oder Gletschersee-Ausbrüche gegeben. Durch den Klimawandel entstünden aber neue, oft schwer erkennbare Situationen an Stellen, an denen man bislang nicht von erhöhter Gefahr ausgegangen sei, so Huss.

Die «Spielregeln» auf dem Berg haben sich somit verändert. Es gilt, die neuen Gefahren zu erkennen, besonders als verantwortliche Person einer Seilschaft. Sind die aktuellen Risiken Teil der Ausbildung der zukünftigen Bergführerinnen und Bergführer? Der Schweizer Bergführerverband (SBV) nehme die Themen Risikomanagement, Naturgefahren und die aktuellen Problematiken im Zusammenhang mit der Erwärmung und den geringen Niederschlägen in den Alpen im letzten Winter und in diesem Sommer sehr ernst, schreibt der Verband auf Anfrage. Xavier Fournier, Mitglied des Zentralvorstandes SBV und Ausbildungskoordinator, erwähnt, dass diese Themen sowohl in der Grundausbildung zur Bergführerin und zum Bergführer als auch in den Weiterbildungen behandelt würden.

«Die technischen Leiter des SBV, Reto Schild (BE), Ueli Tischhauser (GR) und Olivier Roduit (VS), bemühen sich, ihre Kurse entsprechend den Bedingungen und der Entwicklung der Routen zu organisieren», schreibt der SBV. In diesem Zusammenhang erfolge zum Beispiel das Ausbildungsmodul «Sommer Hochtouren» des Aspirantenkurses seit vielen Jahren in zwei Teilen. Der erste Teil finde im Juni statt, um gute Bedingungen für Schneetouren zu haben, während der zweite Teil Ende August beginne und die Kandidaten und Kandidatinnen eher Felstouren durchführen würden, da die geringe Schneemenge und das Eis das Vorankommen auf einigen Gletschertouren erschweren. «Natürlich werden diese Themen von den Kandidaten und Kandidatinnen während der gesamten Ausbildungsmodule behandelt und erlebt.» Seit zwei Jahren werden die Themen Felsinstabilitäten, Permafrost und generell der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Berufspraxis in den Bergen in Weiterbildungen behandelt, die in Zusammenarbeit mit dem WSL-SLF und der Dienststelle für Naturgefahren (DNAGE) des Kantons Wallis durchgeführt werden.

 

 


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