Leinenzwang zum Schutz von Wildtieren

  08.05.2020 Saanen, Gesellschaft, Politik, Gsteig, Tourismus, Saanenland, Lauenen

Im Kanton Bern wurden im Jahr 2019 76 Wildtiere von freilaufenden Hunden getötet. Dennoch will man im Saanenland keine allgemeine Leinenpflicht einführen, auch nicht im Frühjahr während der Brut- und Setzzeit, wenn Wildtiere ihre Jungen aufziehen. Man setzt auf die Vernunft der hundehaltenden Bevölkerung. Doch diese lässt oft zu wünschen übrig.

KEREM S. MAURER
In der Schweiz leben derzeit laut der Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion des Kantons Bern fast eine halbe Million Hunde. 68’000 davon leben im Kanton Bern und rund 740 Hunde waren 2019 in den drei Gemeinden des Saanenlandes registriert. Hunde haben, je nach dem wie sie gehalten werden, einen ernst zu nehmenden Einfluss auf ihre Umwelt. Insbesondere, wenn sie nicht an der Leine geführt werden – und schlecht erzogen sind. Gerade jetzt, zwischen April und August, währen der sogenannten Brut- und Setzzeit, sind Wildtiere besonders empfindlich auf Störungen, weil sie ihre Nachkommen aufziehen.

Bussen bis 20000 Franken
«Das Thema freilaufende Hunde im Frühjahr ist tatsächlich ein Problem, das uns jedes Jahr beschäftigt», sagt Niklaus Blatter, Jagdinspektor des Kantons Bern, auf Anfrage und betont, dass Hundebesitzer/innen durch vernünftiges Handeln viel zu dessen Lösung beitragen könnten. Und gerade im Kanton Bern ist Vernunft diesbezüglich wichtig, denn verglichen mit anderen Kantonen herrscht hierzulande eine eher lasche Leinenpflicht für Hunde (siehe Kasten). Laut Blatter wurden 2019 im Kanton Bern 76 Wildtiere von Hunden gerissen, wobei die Dunkelziffer wesentlich höher sein dürfte. Und dies, obschon wildernde Hunde von der Wildhut abgeschossen werden dürfen und fehlbare Hundehalter nach dem Bundesgesetz über die Jagd und den Schutz wildlebender Säugetiere und Vögel (JSG) mit einer Busse von bis zu 20’000 Franken bestraft werden können.

In Schutzgebieten gilt Leinenpflicht
Für Hundehalter sind die Gesetzgebungen nicht ganz einfach. Eigentlich bildet das kantonale Hundegesetz die rechtliche Grundlage für den sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit Hunden. Aber: «Der Schutz des Wildes ist nicht im Hundegesetz, sondern in der Verordnung über den Wildtierschutz (WTSchV BSG 922.63) geregelt», wie Corinne Schwab, Fachbereichsleiterin Veterinärdienst bei der Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion des Kantons Bern, erklärt. Gemäss Artikel 3, Absatz 1, Buchstabe e dieser Verordnung kann ein Leinenzwang für Hunde in regionalen Wildschutzgebieten durch die jeweilige Gemeinde getroffen und entsprechend ausgeschildert werden. Ausserdem müssen Hunde in den kantonalen Naturschutzgebieten und in bestimmten Zonen in Wildschutzgebieten zwingend an der Leine geführt werden. Dies gilt für die kantonalen Wildschutzgebiete Giferhorn und Tschärzis auf dem Gemeindegebiet von Lauenen. In den dazugehörenden Schutzbeschlüssen steht: «Naturschutzgebiet Rohr: Das Laufenlassen von Hunden in der Zeit vom 1. April bis 31. August ist untersagt. In dieser Zeit sind sie an der Leine zu führen.» Und im Naturschutzgebiet Gelten-Iffigen gilt: «Das unbeaufsichtigte Laufenlassen von Hunden ist untersagt/ in der engeren Naturschutzzone Lauenensee ist das Laufenlassen von Hunden untersagt.»

Nicht nur das Wild leidet
Abgesehen von den Wildtieren gibt es noch andere Leidtragende, wenn Hunde nicht vernünftig gehalten werden. Michel Zysset, Leiter Infrastruktur und Projekte bei Gstaad Saanenland Tourismus (GST), ist selber Hundehalter und versteht, dass «die Vierbeiner zwischendurch die nötige Freiheit brauchen». Aber: Es gelte immer abzuschätzen, wie gut der Hund erzogen respektive zu kontrollieren ist. Auch gebe es Orte, wo Hunde diskussionslos an die Leine gehören. Kinderspielplätze zum Beispiel. Zysset: «Wir haben einen Fall in Schönried, wo ein zweijähriges Kind von einem Hund angesprungen und umgeworfen wurde.» Solche Sachen gingen gar nicht und seien tunlichst zu vermeiden. Die grössten Ärgernisse im Zusammenhang mit freilaufenden Hunden sieht Zysset in der Rücksichtslosigkeit mancher Hundehaltenden. Dem stimmt auch Karl Graa, Finanzverwalter der Gemeinde Gsteig, zu. Bei den meisten Reklamationen, welche die Gemeinde Gsteig verzeichne, handle es sich um Hundehaltende, die ihre Tiere nicht unter Kontrolle hätten. Diese Hunde würden fremde Personen verängstigen oder Privatgrundstücke betreten. Für Hansueli Perreten, Gemeindeverwalter von Lauenen, bildet der liegengelassene Hundedreck, teilweise in Plastikbeuteln verpackt, ein grosses Ärgernis. Perreten: «Dies schadet vor allem denjenigen Hundehaltern, die es korrekt machen.» Liegengelassener Hundekot ist auch für Michel Zysset ein Problem. Insbesondere bei den Winterwanderwegen zwischen Schönried und Saanen, obschon gerade auf diesem Weg eine von der Gemeinde verordneter Leinenzwang besteht. Übrigens regelt Artikel 10 des kantonalen Hundegesetzes die Sache mit dem Hundekot eindeutig, kurz und bündig: «Wer einen Hund ausführt, hat dessen Kot zu beseitigen.» Wer dagegen verstösst, kann gebüsst werden. Es drohen Bussgelder in der Höhe von 100 Franken.

Generellen Leinenzwang will niemand
Einen generellen Leinenzwang im Saanenland will man indes nicht. Michel Zysset: «Es braucht keine grundsätzliche Leinenpflicht, sondern verantwortungsvolles Handeln.» Und Thomas Frei, Gemeinderat Sicherheit der Einwohnergemeinde Saanen, teilt auf Anfrage mit, man halte sich betreffend eines Leinenzwangs in Saanen an die Vorgaben des Kantons. Er betont, dass ein Grossteil der Hundehaltenden sich an die Vorschriften halte und ergänzt: «Eine grundsätzliche Leinenpflicht wäre nicht mehrheitsfähig.» Auch in Gsteig hält man sich diesbezüglich an das kantonale Hundegesetz. Finanzverwalter Karl Graa: «Die Gemeinde Gsteig hat keine zusätzlichen Orte mit Leinenpflicht festgesetzt.» Hansueli Perreten, Gemeindeverwalter von Lauenen, sagt, dass der Wunsch nach einem grundsätzlichen Leinenzwang in der Gemeinde noch von niemanden geäussert worden sei. Daher glaube er nicht, dass dies erstrebenswert sei.

Den Blick auf den Hund, nicht aufs Handy
Eine in Gstaad wohnhafte Hundehalterin hat einen Deutschen Schäfer, der bereits einige Ausbildungen gemacht und hat und gut gehorcht. Sie sagt: «Wer seinen Hund ausführt, muss die ganze Zeit wachsam sein. Die Aufmerksamkeit der hundehaltenden Person gehört dem Hund, nicht dem Handy.» Und dennoch könne es sein, das der Hund eine Witterung aufnimmt, bevor sie etwas gesehen hat. Dann erkenne sie anhand der Körpersprache ihres Hundes, was Sache sei und wisse, worum es gehe. Dennoch: Eine hundertprozentige Kontrolle sei nicht möglich, ein Hund sei und bleibe ein Hund, letztlich ein naher Verwandter des Wolfes. Sie lässt ihren Hund wann immer möglich frei laufen, damit sich der Hund seiner Natur entsprechend bewegen und austoben kann. «Die Leine bedeutet für einen Hund eine grosse Einschränkung und entspricht nicht der Natur des Tieres», sagt die Hundehalterin. Dennoch gebe es Situationen, in denen sie ihren Hund an die Leine nimmt, nämlich in Wohngegenden und an gut besuchten Orten. Ansonsten meidet sie, so gut es geht, Orte und Wege, die mit einem Leinenzwang belegt sind. Und wenn man schon an einigen Orten Hunde nicht frei laufen lassen darf, würde sie es begrüssen, dass es dafür an anderen Orten ausdrücklich erlaubt sein sollte. Das Problem mit von Hunden gerissenen Tieren sieht die Hundehalterin eher pragmatisch: «Das ist zwar nicht schön, kommt aber vor und ist grundsätzlich ein natürliches Verhalten des Hundes.» Was sie aber nicht gutheisst ist, dass wildernde Hunde abgeschossen werden können, denn diese täten im Grunde ja nichts anderes als Jäger auch.

Gefahr auch für sich selbst
Eine andere Hundehalterin, die anonym bleiben will, lässt ihren Tibet-Spaniel ausser zu Hause, wo er grossen Umschwung geniesst, grundsätzlich nie von der Leine. «Ich kenne meinen Hund und weiss, dass er mir nicht mehr gehorcht, sobald er ein anderes Tier sieht, riecht oder sonst wie wittert», gesteht sie. Ihrer Meinung nach sollten Wildtiere nicht das Nachsehen haben, nur weil sie selber einen Hund halten möchte. Und da sie am Waldrand wohne, käme ihr Hund an die Leine, sobald sie ihr eingezäuntes Grundstück verlasse. Ausserdem sei ihr Hund als Welpe relativ schlecht sozialisiert worden, weshalb er praktisch jedes andere Tier zuerst einmal anbelle und – wäre er freilaufend – kompromisslos darauf zulaufen würde. «Das kommt nicht in jedem Fall gut an und könnte für meinen Hund selbst gefährlich werden, wenn nicht sogar tödlich enden», weiss die Hundehalterin und fügt hinzu, ein Sechs-Kilo-Hündchen wie das ihre sei für andere grosse Hunde ein gefundenes Fressen, Stichwort: fliehende Beute. Also schütze sie nicht nur andere Tiere, sondern auch ihren eigenen Hund, wenn sie ihn an der Leine führe. Ein weiterer Vorteil der Leinenführung sei, dass sie so immer sehe, wo er sein Geschäft verrichte und es gleich wegräumen könne. Denn dazu fühle sie sich als Hundehalterin verpflichtet.


LEINEN- UND MAULKORBPFLICHT

Art.7
1. Wer einen Hund mit sich führt, muss ihn in den folgenden Fällen an der Leine führen:
a beim Fehlen anderer wirksamer Kontrollmöglichkeiten
b auf Schulanlagen, öffentlichen Spiel- und Sportplätzen
c in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Bahnhöfen und Haltestellen
d bei Betreten von Weiden, auf denen sich Nutztiere aufhalten (bestossene Weiden)
e auf Anordnung im Einzelfall.
2. Die Gemeinden überwachen die Einhaltung der Leinenpflicht nach Absatz 1 und können weitere Orte bezeichnen, an denen Hunde an der Leine zu führen sind.
3. Sie können in Einzelfällen Ausnahmen von der Leinenpflicht nach den Absätzen 1 und 2 bewilligen.
4. Vorbehalten bleiben Leinenpflichten gemäss der Jagd- und Naturschutzgebung
5. Hunde müssen einen Maulkorb tragen, wenn sie
a bissig sind,
b es im Einzelfall angeordnet worden ist.

Quelle: Hundegesetz des Kantons Bern


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