Nachwuchsförderung als Bereicherung für alle

  08.08.2022 Kultur, Kultur, Konzert, Saanen, Musik

Es ist wieder so weit: Das Gstaad Festival Orchestra (GFO) probt intensiv mit ausgewählten Nachwuchsdirigenten der Gstaad Conducting Academy. Zuerst in kleiner Besetzung und später als grosses Sinfonieorchester. Eine zweite Kostprobe dieser Arbeit durfte das Publikum letzten Samstag in der Kirche Saanen geniessen.

ÇETIN KÖKSAL
Das Erfrischende, Spannende, für das Orchester aber auch Herausfordernde bei diesen Konzerten ist unter anderem die von Satz zu Satz wechselnden Dirigenten. Die zukünftigen «Chefs», welche aktuell von Johannes Schlaefli, dem Head of Teaching der Conducting Academy, einen «Feinschliff» erhalten, übergeben den Dirigentenstab jeweils einem Mitstudenten, damit möglichst viele vor Publikum auftreten können. Für das Orchester bedeutet dies, sich immer wieder auf einen neuen Chef einzustellen und während 100 Minuten aufmerksam und wach zu bleiben, denn die 23- bis 29-jährigen Nachwuchstalente haben alle ihre eigene Interpretationsvorstellung. Den Zuhörern bietet diese Form ein anderes Konzerterlebnis. Die Stücke werden durch die Wechsel zwar in ihrem grossen Ganzen, ihrer Einheit etwas «auseinandergerissen», dafür aber bietet sich die einmalige Chance, vier verschiedene, jede für sich absolut berechtigte Idee einer Sinfonie erleben zu dürfen. Das verlangt auch vom Publikum Aufmerksamkeit, Offenheit und Neugier, entschädigt aber mit prickelnder Lebendigkeit und vielen neuen Eindrücken.

Ouvertüre und Haydns «Wunder»
Laurent Zufferey eröffnete den Dirigierreigen mit einem spritzig leichtfüssigen Adagio – Allegro, dem 1. Satz der Sinfonie Nr. 96 von Joseph Haydn. Diese wird auch «Das Wunder» genannt, was auf eine launige Legende zurückgeht. Bei der Uraufführung dieser ersten der Londoner Sinfonien dirigierte Haydn vom Flügel aus und mitten im Konzert löste sich ein Kronleuchter und fiel krachend auf den Saalboden. Wie durch ein Wunder waren ausser ein paar harmlosen Quetschungen keine ernsteren Verletzungen zu beklagen. Daher der Beiname dieses Werks, obwohl die Geschichte nie wirklich bewiesen werden konnte und sie zumal später der 102. Sinfonie zugeordnet wurde…

Samy Rachid wählte für das Andante eine gehaltvolle, gravitätische Interpretation, Daniel Huertas «tanzte» mit dem GFO durch das nachfolgende Menuett/Allegretto und Izabele Jankauskaite fiel durch ihre feine Handarbeit auf. Sie beschenkte das Publikum mit einem kraftvollen, aber dennoch differenzierten und harmonischen Finale/ Vivace. Molly Turner überzeugte mit ihrer bereits sehr reifen, fein austarierten Version der Ouvertüre aus der Oper «L’isola disabitata», ebenfalls von Haydn.

Anastasia Kobekina
Die letztjährige Gewinnerin des Public Votings Jeunes Etoiles wählte für ihren Auftritt die «Variationen über ein Rokokothema A-Dur für Cello und Orchester» von Tschaikowsky. Am Dirigentenpult standen für das Thema und die ersten drei Variationen Ingunn Korsgård Hagen und für die restlichen vier Omer Shteinhart. Kobekina begeisterte mit ihrem warmen, zuweilen samtigen Celloklang und einer ausgeprägten, natürlichen Musikalität. Junge, begabte Instrumentalisten auf diesem hohen Niveau machen häufig durch ihre stupenden technischen Fähigkeiten, ihre Virtuosität auf sich aufmerksam, was durchaus dem «normalen Lauf» einer Musikerkarriere entspricht und ebenso Ausdruck von jugendlicher Vitalität und Unbekümmertheit ist. Anastasia Kobekina ist zwar ebenfalls eine – im besten Sinne gemeint – noch jugendliche Musikerin, die ihr Instrument selbstverständlich beherrscht, wobei sie in der Musik lebt und sich nicht auf technischen Spitzensport fokussiert. Dies geschieht zweifellos unbewusst und entspricht schlicht ihrem Naturell, was zu einer Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit führt, welche die Herzen des Publikums erobert.

Mit Befremden erinnern wir uns an die aktivistische Absage eines Konzerts im vergangenen März. Ein Schweizer Veranstalter lud Kobekina mit der Begründung ihrer russischen Nationalität aus, obwohl sie nachweislich nicht zum Regime-Dunstkreis gehört. Andere Veranstalter distanzieren sich von russischen Programmationen, um vordergründig auf der moralisch «richtigen» Seite zu stehen. Welch ein Glück, ist man geneigt zu sagen, dass sich diese radikale, ja fanatische Sichtweise bei den meisten nicht durchgesetzt hat, denn differenzieren statt pauschalisieren – gerade auch in schwierigen Zeiten – unterscheidet uns ja auch von totalitär geführten Gesellschaften. Eine russische Musikerin mit vielversprechender Zukunft spielte ein Werk eines der grössten (russischen) Komponisten und alle empfanden Freude und (vermutlich) niemand dachte in diesem Moment an Krieg und Zerstörung – es lebe der Facettenreichtum!

Nathanaël Iselin, Kyrian Friedenberg und Jascha von der Goltz beschlossen den an Eindrücken so reichen Konzertabend mit jeweils einem Satz aus Mozarts Prager-Sinfonie. Bald schon werden die jungen Dirigenten mit dem grossen GFO musizieren – wohin die Reise wohl gehen wird?


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