Von der Überwindung der eigenen Grenzen

  18.06.2007 Gstaad, Tradition, Tourismus, Natur, Landwirtschaft

Bergtour Videmanette – Via Ferrata Rüeblihorn

Majestätisch, herausfordernd gar, ragt der Gipfel des Rüeblihorns weit über uns in den stahlblauen Himmel. Ueli Hauswirth und ich lassen das Auto am Fusse der Videmanette hinter uns; ab jetzt tragen uns nur noch unsere Füsse Richtung Himmel. Während eineinhalb Stunden wandern wir Richtung Videmanette hoch. Unser Weg führt an Alphütten vorbei, wo bereits „g’chiieset“, also Käse hergestellt wird. Ein faszinierendes Schauspiel; milde Morgensonne dringt durch die kleinen Fenster in den tiefen, rauchverhangenen Raum. Mit kräftigen Bewegungen wird die Milch im Käsekessel umgerührt; ein seit Jahrhunderten unverändertes Ritual, welches hier oben noch lebendige Tradition ist. Der Weg zieht uns weiter.

360°-Aussicht vom Gipfel des Rüeblihorns


Wir durchqueren das duftende Blütenmeer alpiner Flora, welches an diesem strahlenden Morgen in tausend Farben leuchtet. Ueli, seit 27 Jahren Berufs-Bergsteiger, kennt alle Blumen beim Namen und seine Augen erspähen Tiere, welche ich nie bemerkt hätte. Hier und da überschreiten wir kleine Rinnsale, welche sich glitzern ihren Weg durch das nunmehr spärlich werdende Gras suchen und sich in kleinen Seen sammeln. Alsbald lassen wir die Vegetation hinter uns; ein paar Murmeltiere suchen das Weite. Über uns die Bergstation Videmanette, welche zu dieser Jahreszeit noch still steht. Unsere Schritte hinterlassen nunmehr ihre Spuren in den letzten Schneefeldern, unsere Tritte suchen Halt auf kiesernem Untergrund. Ueli schreitet sicher voran, während ich versuche, meine Erschöpfung zu verbergen. Die Füsse beginnen zu schmerzen, doch ich kämpfe mich weiter hoch.

Wir kommen auf der Höhe an, das Felsmassiv des Rüeblihorns thront vor uns. Der Mut verlässt mich fast; doch bevor dieser entmutigende Gedanke Überhand nehmen kann, eröffnet sich unserem Blick ein fantastisches Bild: Eine ganze Herde Steingeissen und ihre Kitze bevölkern den Felsvorsprung. Noch nie habe ich diese Tiere so nah gesehen; es ist faszinierend. Am Felsen ist die Via Ferrata zu erkennen: ein langes Stahlseil und hier und da ein paar Haken und Griffe. Doch es packt mich der Ehrgeiz; ich verdränge den Gedanken an meine eigentlich nicht vorhandene Schwindelfreiheit. Wir steigen ins „Klettergestältli“ und rüsten uns mit Helm und Handschuhen aus; Sicherheit geht vor.
Der Aufstieg beginnt. Wir haken die Karabiner unserer Sicherheitsleinen an das Stahlseil und folgen seinem Verlauf. Die Füsse suchen Halt am Felsen, die Hände greifen instinktiv nach dem Seil. Wenn das nur gut geht... Doch Ueli lässt solche Zweifel gar nicht aufkommen. Seelenruhig steigt er in die Höhe, sicher bei jedem Tritt. Die Übergänge zwischen den Seilabschnitten werden kürzer, die Felswand steiler. Ich wage den Blick nach unten; wider Erwarten erfasst mich keine Panik. Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass nichts passieren kann; schliesslich bin ich gut gesichert. Im Rausche der Begeisterung und des Adrenalins entscheiden wir uns für den schwierigeren Aufstieg; ein bisschen „vertical feeling“ muss sein. So finde ich mich wenige Minuten später ein paar Meter weiter oben wieder, über eine fast senkrecht verlaufende Wand hangelnd. Meine Konzentration richtet sich auf den nächsten Tritt, meine Augen spähen nach dem nächsten Griff im Felsen. Jede Bewegung ist überlegt; Körper und Geist werden eins. Bevor ich mich versehe, haben wir die Höhe erreicht; wir    brauchen keine Sicherung mehr. Der Ausblick ist grandios. Ein paar dunkle Wolken sind heraufgezogen, wir spüren erste Regentropfen. Trotzdem entschliessen wir uns, noch bis zum Gipfelkreuz hinüberzusteigen. Nach kurzem Aufstieg stehen wir dann endlich zuoberst auf dem Rüeblihorn; wir, die Gipfelstürmer! Ueli gratuliert mir zur Besteigung, die Begeisterung steigert sich zur Euphorie. Das Kameraobjektiv kommt dem Auge nicht mehr nach; alles ist grandios von hier oben. Das Universum hat sich gedreht; mein Dörfli liegt fast unerkenntlich klein unten im Tal; und ich stehe voller Stolz auf dem Gipfel, welcher meine Augen schon tausende Male gestreift haben. Ein Eintrag ins Gipfelbuch darf nicht fehlen; und schon gar nicht die obligate Foto mit dem Gipfelkreuz. Sonst glaubt mir da unten ja niemand, dass ich wirklich da oben gestanden habe!
Es bleibt uns nicht viel Zeit zum Bestaunen der grossartigen Aussicht, da die Wolken bedrohlich dunkel geworden sind. Wir nehmen den Abstieg in Angriff; diesmal wählen wir die einfachere Variante. Der Abstieg ist leicht, aber vielleicht ist dieser Eindruck bloss ein Nebeneffekt des Gipfel-Adrenalinstosses. Jedenfalls sind wir kurze Zeit später wieder auf der Videmanette-Höhe und verwandeln uns wieder in Wanderer. Bewaffnet mit einem Sandwich nehmen wir die Talwanderung unter die nunmehr unerträglich schmerzenden Füsse; wir wollen dem Regen zuvor kommen. Der Geist, gesättigt von den unglaublichen Eindrücken, nimmt die paar Steinböcke und Murmeltiere nur noch als Randerscheinungen wahr. Während uns die erschöpften Glieder (vielleicht waren es auch nur meine) talwärts tragen, dröhnt der Kopf von so vielen Eindrücken. Ein paar schöne Alpenblumen als Mitbringsel haben noch Platz im Rucksack; schliesslich ist der Proviant jetzt aufgebraucht. Als wir beim Auto ankommen, kann ich mir einen Blick zurück nicht erwehren... dieses Gefühl beim Anblick des Berges, „meines“ Berges, entschädigt einen für alle Müh. Todmüde, aber voller Stolz sinke ich in den Autositz. Die Asphaltstrasse führt uns zurück in die Realität, zurück in die Zivilisation. Doch dieses Gefühl beim Anblick des Gipfels wird
anhalten, wird zur unvergesslichen Erinnerung.
Andrea von Siebenthal

Dieser Artikel ist der Beilage \\'Sommer Special\\' unseres Schwesternblatts, dem Anzeiger von Saanen,  entnommen. Dort erfahren Sie, was unsere Region im Sommer alles zu bieten hat (nämlich eine ganze Menge!) und wo Sie Aktivitäten wie die oben beschriebene Bergtour buchen können. Das \\'Sommer Special\\' liegt in den Hotels der Region und beim Tourismusbüro auf. Erhältlich ebenfalls bei unserem Verlag, der Müller Marketing & Druck in der Kirchstrasse Gstaad.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote