Haus Fuhrenmatte schliesst trotz erfolgreichem Konzept

  04.03.2022 Saanenland, Gesellschaft, Volkswirtschaft, Verwaltungskreis Obersimmental-Saanen, Gesundheitswesen, Nachbarschaft

Am 1. Dezember 2007 erfüllte sich mit dem Neubau und Betrieb des Haus Fuhrenmatte in Boltigen für Ruth Lempen der Wunsch nach einem bedarfsgerechten Angebot für Menschen mit Demenz. Leider hatte sich über die Jahre das Finanzierungsmodell für schwer demenzerkrankte Menschen in einem Kleinbetrieb nicht verbessert, im Gegenteil, im Jahr 2015 verschlechterte sich die Finanzierung noch und es konnten keine Finanzreserven angespart werden. Auch wenn jetzt endlich mit der neuen Verordnung über die sozialen Leistungsangebote (SLV) vom 1. Januar 2022 eine deutliche Besserung eintritt, reicht es für das Haus Fuhrenmatte nicht mehr. Ruth und Werner Lempen verkaufen ihren Betrieb schweren Herzens.

Vor rund 15 Jahren öffnete sich die Tür zum Haus Fuhrenmatte in Boltigen, ein Neubau gebaut im Minergie-Standard mit einheimischen Handwerkern, an bester zentraler Lage mit Nähe zum Bahnhof und zum Arzt. In den Regionen Simmental und Saanenland wurde damals mit zwölf Plätzen (acht Einzelzimmer und zwei Doppelzimmer) eine Lücke für ein bedarfsgerechtes Angebot für Menschen mit Demenz in der stationären Altersarbeit geschlossen.

Bedarfsgerechtes Wohnen für Menschen mit schwerer Demenz
Mit viel Idealismus und grossem Engagement schaffte Ruth Lempen-Wyss mit ihrem Team ein Heim für zwölf Menschen mit hohem Pflege- und Betreuungsbedarf. Mit dem privaten Wohnangebot im Berggebiet entstanden auch neue Arbeitsplätze. Aktuell arbeiten in der Lempen-Wyss GmbH 29 Mitarbeitende, aufgeteilt auf 17 Vollzeitäquivalenzstellen. Die Dienstleistungen werden im Haus Fuhrenmatte selbst erbracht und auch zwei Lernende ausgebildet.

«Unsere Gäste sollen bei uns möglichst viele Elemente ihrer früheren Lebensatmosphäre, ihrer Erfahrungen und Gewohnheiten wieder finden», war immer das Ziel von Ruth Lempen. So ist die grosse, hell und freundlich gestaltete Wohnküche zentraler Ort der Begegnung. Von hier aus können die zwar kognitiv stark eingeschränkten, aber doch oft noch sehr mobilen Gäste auch den sicher begehbaren und geschützten Garten nutzen. Die Bewohnenden können sich nach ihren Möglichkeiten maximal selbstständig bewegen und erfahren in der kleinen Gruppe eine individuelle Betreuung.

Höhere Betreuungsleistungen für schwer an Demenz Erkrankte wurden bisher nicht bezahlt
Im Haus Fuhrenmatte leben seit Beginn im Jahr 2007 circa 80 Prozent der Gäste mit einem CPS-Wert von fünf Punkten, das heisst mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung. Die Erfassung der kognitiven Leistungsfähigkeit wird im Cognitive-Performance-Scale-Wert (CPS) zwischen 0 und 6 Punkten abgebildet: von CPS 0 = intakte kognitive Leistungsfähigkeit bis 6 = sehr schwere kognitive Beeinträchtigung. Menschen mit schwerer Demenz haben einen CPS-Wert von 5 oder 6. Je höher der CPS-Wert liegt, desto mehr Betreuungsleistungen müssen erbracht werden. Ausser vielleicht, wenn die Bewohnenden einen sehr hohen ADL-Index (Activities of Daily Living) haben. Dieser zeigt an, wie viel Unterstützung bei Aktivitäten des täglichen Lebens die Menschen brauchen.

Für die Einstufung in die abrechnungsbare Tarifstufe wird eine national einheitliche Bedarfsabklärung gemacht, welche genau auf diesen zwei Werten basiert. Im aktuellen 13-stufigen Tarifsystem des Kantons Bern wurden die Betreuungsleistungen für Menschen mit schwerer Demenz bisher nicht abgegolten (anders sieht es bei Menschen mit Beeinträchtigungen aus, die ein anderes Abrechnungsmodell haben, wie zum Beispiel im IV-Bereich). «Soziale Institutionen, welche ein ‹bedarfsgerechtes Angebot für Menschen mit schwerer Demenz› gemäss der nationalen Demenzstrategie 2013–2019 (NDS) anbieten, gehen betreffend Betreuungsleistungen leer aus. Die Betreuungsleistungen werden nicht bezahlt, ausser elf Minuten pro Tag pro Gast über die Ergänzungsleistung oder den Selbstzahler. Bei uns im Haus benötigen wir in der Regel aber 150 bis 180 Minuten Betreuungszeit pro Tag», erläutert Ruth Lempen. «Durch diese gesundheitspolitische Fehlstruktur konnten wir trotz guter Führung, guten langjährigen Mitarbeitenden und sehr guter Auslastung über 14 Jahre keine Finanzreserven bilden.»

Eine weitere, nicht abzusehende finanzielle Einbusse musste das Haus Fuhrenmatte auch mit der Einführung des RAI-Indexes CH ab dem 1. Januar 2015 im Kanton Bern hinnehmen. Der Personalaufwand für die Betreuung blieb, wurde aber noch weniger durch die Zurückstufung um eine Tarifstufe bezahlt. Am 3. März 2017 konnten Ruth Lempen und ihre Stellvertreterin Sieglinde Bürki sogar Regierungsrat Pierre Alain Schnegg und den Generalsekretär Yves Bichsel im Haus Fuhrenmatte empfangen und ihnen die finanzielle Problematik für Menschen mit schwerer Demenz in einem «bedarfsgerechten Angebot für Menschen mit Demenz» darlegen. Aber die «Mühlen mahlen manchmal langsam» und es änderte sich in der Gesundheitspolitik erst einmal nichts.

Durch Covid-19 fiel die Auslastung um einen Drittel
Der zweite Grund, der Ruth Lempen nun zum Verkauf ihres «Herzstücks» zwang, ist der zweimalige Covid- 19-Befall im letzten Jahr, durch den die Auslastung auf 84,41 Prozent runterfiel. Eine quasi nicht volle Auslastung führt zu noch weniger Einnahmen, bei bleibendem Personalaufwand und ist für den Betrieb nicht mehr stemmbar. In den zwölf Jahren von 2009 bis 2020 lag eine Bettenauslastung von 97 Prozent vor. 2020 wurde das Haus Fuhrenmatte glücklicherweise vom Coronavirus verschont. Der «Altersmarkt» ist mit Corona eingebrochen. Seit Januar 2022 ist die Bettenauslastung noch weiter gesunken, sodass die Eheleute Lempen-Wyss keinen anderen Ausweg als den Verkauf mehr sahen. Der definitive Entscheid wurde schweren Herzens gefällt. Mitarbeitende, Lieferanten und Gäste bzw. deren Angehörige sind informiert dass das Haus Fuhrenmatte am 31. Mai 2022 die Türen schliesst.

Verbesserungen sind in Sicht, kommen aber für das Haus Fuhrenmatte zu spät
Aufgrund der von Anne Speiser, Matthias Matti, Barbara Josi, Hans Schär und drei weiteren Politikerinnen eingereichten Motion «Überbrückungsabgeltung der Betreuungsleistungen bei Menschen mit schwerer Demenz, um ein bedarfsgerechtes Angebot sicherzustellen» hat sich die Situation verbessert. Die Motion wurde am 14. September 2021 sehr deutlich angenommen. Es ist erkannt worden, dass die bisherige Zeiterfassung realitätsfremd und nicht mehr haltbar ist und angepasst werden muss. Um Abrechnungstransparenz zu schaffen, soll der Kanton Bern die Zeiterfassung der erbrachten Betreuungsund Krankenpflegeleistungen durchführen und dementsprechend die Tarifstrukturen überarbeiten. Bis dies erfüllt ist (es wird mit vier bis sechs Jahren gerechnet), sollen die Pflegeheime, welche Menschen mit schwerer Demenz in einem «bedarfsgerechten Angebot für Menschen mit Demenz» in der stationären Altersarbeit betreuen, eine sofortige Überbrückungsabgeltung pro Bewohner pro Tag erhalten.

Am 1. Januar 2022 ist nun das neue Gesetz der Verordnung über die sozialen Leistungsangebote (SLV) im Kanton Bern in Kraft getreten. Dieses ist die Grundlage, dass in Zukunft Betreuungsleistungen abgegolten werden können, die Rahmenbedingungen sind in Bearbeitung. Für das Haus Fuhrenmatte ist es leider zu spät. Ruth Lempen hofft nun, dass für Mitarbeitende und auch die Bewohnenden eine gute Anschlusslösung gefunden wird.

KERSTIN KOPP


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