Von opportunistischen Katzen und anderen Tieren

  18.01.2022 Saanen, Brauchtum, Kultur, Saanenland, Kunst, Porträt

Seit etwa zwei Jahren gibt sich der knapp 80-jährige Remo Casagranda seiner besonderen Leidenschaft hin: Er töpfert Tiere in naturgetreuen Dimensionen – und bekommt nicht genug davon.

SONJA WOLF
«Schuld an allem sind die Katzen!», sind sich Ehepaar Casagranda und ihre Nachbarin Barbara Rieder einig und lachen erst einmal alle miteinander herzlich. Wir sitzen im gemütlichen Wohnzimmer des Rentnerehepaares. Der Hund aus Fleisch und Blut schläft auf dem Sofa und eine ganze Kompanie getöpferter Tiere schaut uns von den Schränken, Tischen und von draussen durch das Wohnzimmerfenster an.

Die beschuldigten Katzen Luna und Nero gehör(t)en eigentlich Barbara Rieder, haben aber – typisch katzenopportunistisch – entdeckt, dass die Pensionäre Remo und Marianne Casagranda häufiger zu Hause waren und mehr Leckereien vor ihr Haus stellten als ihr Frauchen. Als Barbara Rieder ihre Katzen immer öfter suchen musste, ist sie schliesslich nicht nur bei den Casagrandas fündig geworden, sondern auch gleich in einen herzlichen Kontakt mit ihnen getreten.

Und auch tief in deren Lebensgeschichte eingetaucht: Remo Casagranda hatte 2019 einen Herzinfarkt erlitten und in der Folge mehrere Operationen über sich ergehen lassen müssen. Das Auf und Ab in dieser gesundheitlich belastenden Phase hatte ihm sämtlichen Lebensmut geraubt. Nachbarin Barbara Rieder, Heilpädagogin mit Erstberuf Werklehrerin, hatte schon an den Verzierungen des Hauses erkannt, dass in Remo Casagranda ein Künstler schlummerte und kam so auf die Idee, ihn spontan an zwei bis drei Nachmittagen in die Kunst des Töpferns einzuführen. Womöglich könnte ihn ein neues Hobby moralisch wieder aufbauen?

Der Beginn einer grossen Passion
Und tatsächlich! Mit der neuen Beschäftigung blühte Remo Casagranda wieder auf. Seit etwa zwei Jahren töpfert der heute 79-Jährige fast täglich mit einer kaum in Worte zu fassenden Leidenschaft. «Wenn er töpfert, ist er total versunken in seine Arbeit», beschreibt ihn seine Frau Marianne.

Seine erste Töpferkreation – selbstverständlich eine der Katzen, die alles ins Rollen gebracht hatten – war zwar schon ganz gut als Katze erkennbar, aber noch nicht so, wie sie sich der ehrgeizige Meister vorstellte. Auch über seinen ersten menschlichen Charakterkopf lacht er heute von Herzen und drückt ihn in Form einer getöpferten Helene Fischer versöhnlich an seine Brust. Nein, nein, der Homo sapiens war nicht seins. Schnell hat er gemerkt, was seine wahre Leidenschaft ist: «Ich liebe Tiere und ich möchte sie so naturgetreu wie möglich darstellen», definiert sich der Künstler. Dazu informiert er sich im Internet über Grösse, Farben und Merkmale des zu formenden Tiers und betrachtet es virtuell aus allen Perspektiven. Und dann geht es ans Töpfern!

Wülste und ein verräterischer Föhn
Remo Casagranda arbeitet mit der Methode der Aufbaukeramik, genauer gesagt mit der Wulsttechnik. Das bedeutet, er formt gleichmässige Rollen, die er in Form legt und verstreicht. Der Tierkörper ist hohl, die Wände etwa einen Zentimeter stark. Er beginnt mit dem Rumpf des Tieres, eines Vogels zum Beispiel, lässt ihn über Nacht trocknen, damit er eine feste, standhafte Basis hat, und fährt am Folgetag weiter mit dem Kopf, den Flügeln, Füssen und anderen feineren Teilen des Tiers.

«Geduld ist nicht meine Stärke», gibt er zu. Ich benutze sogar ab und zu den Föhn, damit die Basis schneller trocknet, aber sagen Sie das nicht meiner Lehrmeisterin!», verrät er mit einem Augenzwinkern und macht die Truhe schnell wieder zu, in welcher neben dem verräterischen Föhn auch Pinsel und Glasur, hölzerne Modellierwerkzeuge und noch viel mehr Material aufbewahrt sind.

In seinem eigenen Brennofen im Keller wird das Kunstwerk dann zweimal gebrannt: Nach dem Rohbrand folgt in einem zweiten Durchgang der Glasurbrand. Dabei werden bis zu 1250 Grad erreicht und der Rohling ist bis zu zehn Stunden im Ofen, dauert doch allein die Abkühlung bis zu sechs Stunden.

Vom Handwerker zum Künstler
Da er viele seiner Kreationen an Familie und Freunde verschenkt, produziert er bisweilen auch ganz praktische Teller und Schalen. Aber seine Leidenschaft sind und bleiben die Tiere. «Möchtest du deine Kunstwerke nicht auf einem der Märkte im Saanenland anbieten?», wurde er bereits von vielen Freunden gefragt. «Nein, nein, das ist doch nur ein Hobby. Ich will mich doch nicht lächerlich machen!», pflegt der bescheidene Casagranda dann zu antworten. Bis zu dem Tag, als sein behandelnder Arzt bei einem Hausbesuch auf die fröhliche Tierschar aufmerksam wurde und ihn dazu bewegen konnte, einige Werke in der Galerie von dessen Frau in Château-d’Oex auszustellen. Ob das der Beginn einer Karriere als Volkskünstler à la Hauswirth ist? Remo Casagranda quittiert die Frage mit einem fröhlichen Lachen. Man merkt, dass er sich einfach wohlfühlt mit seiner Töpferei, alles andere komme, wie es komme.

Mit den Händen hat der Rentner übrigens schon immer gern gearbeitet: Als gelernter Maurer hat er 1970 das gemütliche Einfamilienhaus in nur wenigen Monaten selbst hochgebaut. Dank seiner Konversion zum Plattenleger konnte er die fantasievollen Sternplatten im Eingangsbereich kreieren. Für die Steinwand im Wohnzimmer hat er eigenhändig Steine im Bachbett gesammelt. Hedi Olden bewunderte er für ihre Graphittechnik, liess sich diese von ihr beibringen und gestaltete die Verzierungen um die Fenster und Türen an seinem Wohnhaus. Sogar einige selbst gemalte Acrylgemälde lassen sich bei ihm zu Hause ausfindig machen.

Die Künstlerseele im Tonkörper
«Töpfern hat etwas mit der Seele des Menschen zu tun, in jeder Figur ist ein Teil von Remos Seele drin», ist Barbara Rieder überzeugt, die sich sehr beeindruckt zeigt, wie ihr talentierter Nachbar nach einer so kurzen Einarbeitungszeit seine Techniken in Eigenregie so gut verfeinern konnte. Das ganze Haus ist übrigens beseelt von Tierscharen (und Helene Fischer), so sehr, dass Marianne Casagranda bereits die ersten Töpferversuche ihres Mannes diskret in Kisten verpackt und durch die neueren, reiferen Kunstwerke ihres Mannes austauscht.

Eine Auswahl von Remo Casagrandas Werken ist noch bis Ende Januar in der Galerie «Mon jardin secret» in Château-d’Oex zu sehen.


ZUR PERSON

Remo Casagranda ist 1942 in Südtirol geboren und seit 1961 im Saanenland wohnhaft. Mit seiner Frau Marianne, einer gebürtigen Saanerin, ist er seit 1965 verheiratet und hat zwei Söhne. Der gelernte Maurer und Plattenleger betrieb jahrelang sein eigenes Plattenlegergeschäft, das seit seiner Pensionierung sein Sohn Renzo weiterführt.

SONJA WOLF


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