«Es war schön, einen so vielfältigen Beruf wie Hausärztin über Jahre ausüben zu dürfen»

  18.08.2022 , Interview, Gesellschaft, Gstaad, Gesundheitswesen, Soziales

Dr. med. Claudia Sollberger hat vor 30 Jahren zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Arzt ist, die Hausarztpraxis ihrer Eltern übernommen. Die letzten 15 Jahre hat das Ehepaar zusammen mit Nikolaus Hoyer die Praxis Madora geführt. Seit Ende Mai ist Claudia Sollberger teilpensioniert – sie hat ihre Arbeit als Hausärztin aufgegeben, arbeitet aber weiterhin zwei Tage pro Woche in Bern.

ANITA MOSER

Claudia Sollberger, vor gut zwei Monaten haben Sie Ihre Arbeit als Hausärztin aufgegeben. Hatten Sie keine Lust mehr auf Hausarztarbeit?
Eine Hausarztpraxis deckt ein sehr breites Spektrum ab und dabei habe ich viele schöne, intensive und auch anstrengende Begegnungen und Beziehungen erleben dürfen. Die Hausarztarbeit ist sehr vielseitig, und ich habe sie gerne gemacht; sie ist aber auch anstrengend und irgendwann kommt die Zeit, sich zurückzuziehen und jüngeren Platz zu machen.

Sie arbeiten weiterhin zwei Tage in Bern. Was reizt Sie an dieser Arbeit?
Die Palliativmedizin ist mein Steckenpferd. Ich arbeite im Diaconis in Bern auf der stationären Palliativabteilung für komplex-palliative Patienten. Es ist eine intensive Betreuung des Patienten mit seinen Angehörigen in einem grösseren und spezialisierten Team.

Sie haben im Saanenland die Palliativmedizin geprägt, respektive Sie haben das Angebot aufgebaut. Ihnen liegt das Palliative sehr am Herzen. Weshalb?
Bevor ich ins Saanenland kam, habe ich mir überlegt, mich in Onkologie (Krebskrankheiten) zu spezialisieren. In der peripheren Hausarztpraxis ist das nicht realistisch. Es war mir jedoch wichtig, mich im Bereich Palliativmedizin zu engagieren, da die Bevölkerung hier sehr motiviert ist, ihre Angehörigen zu begleiten. Wir haben zusammen mit der Spitex ein interdisziplinäres Team für die Betreuung zu Hause aufgebaut, Kurse durchgeführt für Angehörige und Interessierte für die Betreuung von chronisch Kranken und Sterbenden. Ich habe mitgeholfen, die erste Spital-Externe Palliativgruppe aufzubauen; Vertreter der Seelsorge, der Sozialarbeit, des Spitals, der Pflegeheime, der Hausärzte und der Spitex haben sich regelmässig getroffen, Bedürfnisse abgeklärt, Hilfe und Unterstützung organisiert. ProViva entstand, als wir auch noch ein Freizeitangebot für beeinträchtige Personen, die noch zu Hause wohnen, aufzogen. Zudem veranlassten wir den Aufbau der Alzheimer-Gruppe, welche die Unterstützung der Angehörigen von dementen Personen anbietet.

1992 haben Sie zusammen mit Ihrem Mann die Hausarztpraxis Ihrer Eltern übernommen. War schon früh klar, dass Sie ins Saanenland zurückkehren?
Damals war die Situation ganz anders als heute. Die Nachfrage nach Hausarztpraxen war grösser als das Angebot. Deshalb waren wir froh, eine Praxis übernehmen und wieder aufbauen zu können.

Seit 2007 führen Sie eine Praxisgemeinschaft im Dreierteam mit Nikolaus Hoyer.
Genau. Wir wollten die Praxis vergrössern, aber es war gar nicht so einfach, einen Partner zu finden. Glücklicherweise suchte Dr. Nick Hoyer die Gelegenheit, in einer Gemeinschaftspraxis tätig zu sein. So wurde die «neue» Praxis Madora für uns alle zum Glücksfall.

Wie hat sich die Hausarztmedizin in all den Jahren verändert?
Es war ein grosser Sprung von den Eltern zu uns und seither hat sich wieder sehr vieles verändert. Früher wurden viele Leistungen in der Praxis erbracht, die heute im Spital oder beim Spezialisten gemacht werden. Zudem hat die Digitalisierung unsere Arbeit stark verändert.

Inwiefern hat die Digitalisierung Ihre Arbeit verändert?
Es war ein grosser Aufwand für das ganze Praxisteam, alle Patientendossiers zu digitalisieren. Durch die Digitalisierung wird die Krankengeschichte übersichtlicher, lesbarer und kann auch einfacher an nachfolgende Arztkollegen weitergegeben werden. Die gute Kommunikation mit dem Patienten unter Berücksichtigung von vielen Daten, die zum Teil nachzuschauen sind, will beachtet sein…

Welches sind die Herausforderungen heute?
Es ist eine sehr kurzlebige Zeit. Als Allgemeinmediziner muss man in allen Fächern – Hautkrankheiten, Hals/Nasen/Ohren, Gynäkologie, Chirurgie, Orthopädie, Innere Medizin, Neurologie, Kinder und so weiter – ausgebildet und regelmässig fortgebildet sein, was sehr anspruchsvoll ist. Deshalb habe ich mich entschieden, mich im letzten Jahr vor meiner Pensionierung auf ein begrenztes Fachgebiet, die Palliativmedizin, zu beschränken. Wie in jedem Beruf kommt man auch als Hausarzt in einen Trapp. Deshalb sind die Engagements in Bern für meinen Ehemann und mich eine Chance. Er ist seit sechs Jahren neben der Arbeit als Hausarzt am Inselspital in der Psychosomatik tätig und ich arbeite seit fünf Jahren zwei Tage in Bern.

Was bringt Ihnen Ihr Engagement in Bern?
Es ist schön, in einem grösseren Team zu arbeiten. Man bekommt neue Impulse und kann das, was einem sehr Spass macht, vertiefen. Man hat mehr Zeit für die Patienten. Und man kann die dort gemachten Erfahrungen in der Hausarztpraxis einbringen.

Früher hatte man von der Geburt bis zum Tod den gleichen Arzt – den Familienarzt sozusagen.
Das ist nach wie vor so. Viele habe ich schon als Kinder gekannt. Mir haben Leute geschrieben, sie seien schon seit über 60 Jahren von «Sollbergers» betreut worden …

Aber das wird sich ändern?
Die Hausarztmedizin hat sich geändert. Man betont zwar immer, wie wichtig sie sei. Um Hausarzt zu werden, muss man so viele Auflagen erfüllen, dass es nur noch wenige interessiert. Für Untersuchungen, die wir früher problemlos machen konnten, braucht man heute eine Qualifikation und diese muss regelmässig erneuert werden. Dazu kommt, dass auch der Patient lieber zum Spezialisten geht.

Die Spezialisten sind zu Konkurrenten geworden?
Das Verhältnis hat sich geändert. Früher hat man – bevor man einen Patienten zum Spezialisten nach Thun oder Bern überwiesen hat – mit dem Spezialisten telefoniert, ihn um seine Meinung gefragt.

Und heute?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ein onkologischer Patient beim Krebstherapeuten war, bestellt er diesen immer wieder ein. Das ist ja schön und gut. Aber am Wochenende, wenn es mal ein Problem gibt, sind wir gut genug, obschon wir den Patienten länger nicht mehr gesehen haben.

Woran liegt es, dass der Hausarztberuf nicht mehr so attraktiv ist? Fehlt die Lobby?
Das ist ein sehr komplexes Problem und hat auch mit verschiedenen Entwicklungen zu tun. Es scheint, dass das alte und für uns gewohnte Hausarztmodell nicht mehr in die heutige Zeit passt. Mit Lobbying kann das Problem nicht gelöst werden!

Was muss passieren, damit sich etwas ändert?
Es muss gar nichts passieren – die Medizin entwickelt sich mit der Gesellschaft. Ob die Versorgung dann besser oder schlechter sein wird, ist eine andere Frage.

Teilzeitarbeit liegt allgemein im Trend – auch bei den Hausärzten?
Genau, das ist so eine Veränderung der Gesellschaft, welche auch die Hausarztmedizin zunehmend prägen wird.

In der Peripherie scheint es noch schwieriger, Fachkräfte zu finden. Die schöne Natur allein reicht offenbar nicht…
Das Leben hier ist teuer und für Fortbildungen muss man weite Wege in Kauf nehmen. Wir haben genau die gleichen Bedingungen und Vorgaben betreffend Weiterbildungen wie unsere Berufskollegen im Zentrum.

Was wünschen Sie sich?
Mir ist es wichtig, dass die Gesundheitsversorgung im Saanenland weiterhin angeboten wird.

Schaffen wir das?
Ich hoffe, dass unsere Praxis weiter bestehen kann.

Sie haben viel Schweres, aber auch viel Schönes erlebt. Worüber haben Sie sich geärgert, was hat Sie beeindruckt?
Im Winter kommen viele Klienten wegen Grippe in die Praxis – für ein Arztzeugnis. Dabei ist das keine medizinische Handlung. Aber der Arbeitgeber verlangt es so… Das war wunderbar während Corona. Die Leute sind von sich aus zu Hause geblieben und brauchten kein Zeugnis.

Beeindruckt hat mich, unter welchen Umständen Menschen zum Teil leben müssen und trotzdem das Beste daraus machen können.

Und was Sie sonst noch sagen wollten…
Ich hatte eine gute Zeit als Hausärztin und danke für das breite Vertrauen, das mir stets entgegengebracht worden ist. Ich wünsche der Bevölkerung, dass sie weiterhin gut versorgt wird und gesund bleibt.


ZUR PERSON

Dr. med. Claudia Sollberger (Jg. 1959) ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Töchtern. Sie war 30 Jahre als Hausärztin in Gstaad tätig und engagiert sich seit fünf Jahren zudem zwei Tage pro Woche im Diaconis in Bern auf der stationären Palliativabteilung. Sie wohnt in Gstaad und in Bern. Zu ihren Hobbys zählen Wandern, Berg- oder Skitouren, Velofahren, Schwimmen, aber auch Lesen (Literarischer Herbst) oder Gärtnern.

ANITA MOSER


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